Islamreform

"Das Aufkommen des IS hat viele Muslime wachgerüttelt"

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© Deutschlandradio
Mouhanad Khorchide im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 02.05.2017
Viele Ansichten des IS werden auch vom konservativen islamischen Mainstream vertreten, meint der Religionspädagoge Mouhanad Khorchide. Das zwinge diese Theologen dazu, ihre Positionen kritisch zu hinterfragen. "Und das ist ja der Anfang von Reformen."
"Ist der Islam noch zu retten?" fragen der muslimische Theologe Mouhanad Khorchide und der Politikwissenschaftler und Islamkritiker Hamed Abdel-Samad in ihrem neuen Buch, einer Streitschrift in 95 Thesen.
Abdel-Samad kritisiere zwar zu Recht die fundamentalistische Deutung des Islam, mache sich diese damit aber auch zu eigen, sagte Mouhanad Khorchide im Deutschlandfunk Kultur. "Er argumentiert wie Fundamentalisten, indem er sagt, für Muslime gilt der Koran als unantastbar, das ist das wortwörtliche, von Gott verkündete Buch."

Wider eine wörtliche Auslegung des Islam

Khorchide, der das Zentrum für Islamische Theologie an der Universität Münster leitet, setzt hingegen darauf, den Koran in seinem historischen Kontext zu verorten. Es gehe also nicht darum, den Koran wortwörtlich zu nehmen, sondern danach zu fragen: was will unser der Koran heute sagen?
"Denken Sie an Gewaltstellen im Koran. Hamed Abdel-Samad sagt: Moment, die gelten als Imperative, so wie sie drin stehen, wortwörtlich, 'Tötet Ungläubige' oder was immer drin steht. Ich sage: Moment, das sind Kommentare. Da werden einfach deskriptiv Situationen auf der Arabischen Halbinsel damals zur Zeit der Verkündigung beschrieben." Wenn man diesen historischen Kontext berücksichtige, entschärften sich diese Gewaltpotenziale.

Die IS als Anstoß für eine Islamreform?

Als liberaler Reformer repräsentiert Khorchide allerdings nur eine kleine Minderheit von Muslimen, die derzeit zudem nicht gerade hoch im Kurs steht, wie er einräumt: "Da hat Hamed Abdel-Samad natürlich recht, indem er sagt, im Moment sehe ich ja nicht gerade die großen Strömungen an Reformen."
l: Hamed Abdel-Samad, deutsch-ägyptischer Politologe und Autor, während einer Fernsehsendung 2013 - r:Mouhanad Khorchide, Leiter des Zentrums für Islamische Theologie, vor dem Schloss in Münster.
Hamed Abdel-Samad (l) und Mouhanad Khorchide (r) bei einem Streitgespräch, das auch als Buch erschienen ist© l: dpa picture alliance/ Karlheinz Schindler - r: Rolf Vennenbernd / picture alliance / dpa
Auf der anderen Seite habe gerade das Aufkommen des IS viele in der islamischen Welt wachgerüttelt, meint Khorchide. "Denn viele Argumente des IS sind ja auch Argumente, die man im Mainstream islamischer Theologie findet. Das zwingt auch muslimische Theologen zum kritischen Nachdenken, zum kritischen Überprüfen auch ihrer Argumente. Und das ist ja der Anfang von Reformen." Deshalb sei er sehr optimistisch, dass die Stimmen immer lauter würden, die nach Reformen rufen.

Hamed Abdel-Samad/Mouhanad Khorchide: "Ist der Islam noch zu retten? Eine Streitschrift in 95 Thesen"
Verlag Droemer, München 2017
304 Seiten, 19,99 Euro


Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Der Islam gehört zu Deutschland, hatte der einstige Bundespräsident Christian Wulff gesagt. Aber ist er noch zu retten, der Islam? Über diese Frage haben sich zwei Muslime, zwei Wissenschaftler gestritten, ein islamischer Religionspädagoge und ein Politologe, und ihren Streit in ein Buch gegossen: der Publizist und Politikwissenschaftler Hamed Abdel-Samad und Mouhanad Khorchide. Er ist für Professor für Islamische Religionspädagogik an der Uni Münster und leitet das dortige Zentrum für Islamische Theologie. Jetzt ist er am Telefon. Schönen guten Morgen!
Mouhanad Khorchide: Guten Morgen!
von Billerbeck: In der Debatte um den Islam hat man den Eindruck, dass die Fronten seit Jahren extrem verhärtet sind. Auf der einen Seite die sogenannten Islamkritiker, auf der anderen die Islamversteher oder -reformer oder -verteidiger. Sie gelten als Reformer und haben nun ausgerechnet gemeinsam mit einem der bekanntesten Islamkritiker hierzulande ein Buch verfasst. Das ist ein ungewöhnliches Projekt – wie kam es dazu?
Khorchide: Hamed Abdel-Samad, wie Sie zu Recht sagen, der sehr bekannt ist im deutschsprachigen Raum, mindestens im deutschsprachigen Raum bekannteste Islamkritiker, hat mehrere Bücher in den letzten Jahren veröffentlicht, wo er den Islam sehr stark kritisiert.
Und ich meine, dass das eine Lesart des Islams, also eine sehr einseitige Lesart des Islams, die er zu Recht auch kritisiert, eine eher fundamentalistische Lesart, und das ist auch meine Kritik wiederum an Hamed Abdel-Samad selbst, dass er einen einseitigen Zugang zum Islam hat. Er argumentiert so ähnlich wie die Fundamentalisten.
Deshalb habe ich ihm das Angebot gemacht, dass wir ein Streitgespräch führen, um für die breite Öffentlichkeit auch zu zeigen, es gibt unterschiedliche Lesarten. Worauf es ankommt, ist, für welche Lesart macht man sich stark, welche Lesart des Islam etabliert sich dann letztendlich.

"Abdel-Samad argumentiert wie Fundamentalisten"

von Billerbeck: Nun geht es ja ganz grundsätzlich um die Frage, ob der Islam reformierbar ist. Sie haben auch den Titel, das Buch so genannt. Und Sie sagen eindeutig, ja, der Islam ist reformierbar. Ihr Streitpartner, Abdel-Samad, sagt das Gegenteil, er sagt nein. Wollen Sie ihn tatsächlich mit Ihren Argumenten von Ihrem Standpunkt überzeugen?
Khorchide: Hamed Abdel-Samad, mein Gesprächspartner, hat wie gesagt einen eher fundamentalistischen Zugang zum Islam. Er argumentiert wie Fundamentalisten, indem er sagt, Moment, für Muslime gilt der Koran als unantastbar, das ist das wortwörtliche, von Gott verkündete Buch, und deshalb dürfen Muslime ihn nicht in seinem historischen Kontext verorten, also Muslime können ihn nicht im siebten Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel verorten, um ihn heute nicht wortwörtlich zu lesen, sondern sie müssen ihn wortwörtlich lesen. Aber das sind ja genau dieselben Argumente von unseren Fundamentalisten oder Salafisten oder wie immer.
Meine Lesart, und das ist die Lesart vieler Islamreformer heute, ist eine andere: Der Koran wurde verkündet im siebten Jahrhundert, aber eben als Kommunikation, und nicht als Monolog Gottes. Gott hat nicht in der Ewigkeit mit sich selbst gesprochen, sondern die Adressaten sind ja beteiligt an diesem Prozess der Entstehung des Korans. Das bedeutet für uns heute im 21. Jahrhundert, dass wir den Koran im historischen Kontext verorten, um nicht den Wortlaut ins Heute und Hier zu übertragen, sondern zu versuchen, die Frage zu stellen, was will uns der Koran heute sagen? Was steht zwischen den Zeilen? Denken Sie an Gewaltstellen im Koran.

Der historische Kontext des Koran entschärft das Gewaltpotenzial

Hamed Abdel-Samad sagt, Moment, die gelten als Imperative, so wie sie drin stehen, wortwörtlich, "Tötet Ungläubige" oder was immer drin steht. Ich sage, Moment, das sind Kommentare. Da werden einfach deskriptiv Situationen auf der Arabischen Halbinsel damals zur Zeit der Verkündigung beschrieben. Und entsprechend entschärfen sich dann diese Gewaltpotenziale, wenn man sie historisch kontextualisiert. Hamed Abdel-Samad lehnt diese Kontextualisierung ab, wie gesagt, ähnlich wie viele Fundamentalisten das machen.
von Billerbeck: Das ist ja ein ziemlich entscheidender Punkt, ob man ihn wortwörtlich liest, den Koran, oder im historischen Kontext. Ein weiterer sehr wichtiger – und das fordern Sie ja auch ganz klar, sind Bildungsreformen, um die in Ihren Augen überholten konservativen Vorstellungen eben zu überwinden. Aber muss man da nicht sagen, Herr Khorchide, hat Abdel-Samad da nicht recht, wenn er meint, so reformwillig wie beispielsweise Sie sei doch nur eine Minderheit?
Khorchide: Wenn man sich die Praxis, die heutige Praxis anschaut in der islamischen Welt, gerade auch in der arabischen Welt, dann sehen wir, dass es da riesengroße Bildungsdefizite gibt in allen Bereichen, ob jetzt technologischen oder naturwissenschaftlichen oder anderen Bereichen, dazu gehören genauso die Geisteswissenschaften.
Und dass jetzt die Theologie ins Stocken geraten ist, das ist auch nur symptomatisch für diese Bildungskrise, in der sich die islamische Welt und auch vor allem die arabische Welt befinden. Und da hat Hamed Abdel-Samad natürlich recht, indem er sagt, im Moment sehe ich ja nicht gerade die großen Strömungen an Reformen.

Der IS zwingt den islamischen Mainstream zu Reformen

Auf der anderen Seite sehe ich gerade – und das klingt vielleicht etwas absurd –, das Aufkommen des IS, des sogenannten Islamischen Staates, hat sehr viel in den letzten fünf Jahren wachgerüttelt in der islamischen Welt. Denn viele Argumente des IS sind ja auch Argumente, die man im Mainstream islamischer Theologie findet.
Das zwingt auch muslimische Theologen zum kritischen Nachdenken, zum kritischen Überprüfen auch ihrer Argumente. Und das ist ja der Anfang von Reformen. Man hört auch heute vom Groß-Scheich von der Al-Azhar zum Beispiel, aber auch von Stimmen in Saudi-Arabien selbst, eines der konservativsten Länder der islamischen Welt, hört man immer wieder Aufforderungen nach Reformen. Das wäre undenkbar ohne das Aufkommen des IS. Deshalb bin ich sehr optimistisch, dass diese Stimmen immer lauter werden, die nach Reformen rufen.
von Billerbeck: Mouhanad Khorchide war das, Leiter des Zentrums für Islamische Theologie und Professor für Islamische Religionspädagogik an der Universität Münster. Heute erscheint die Streitschrift, die er zusammen mit Hamed Abdel-Samad bei Suhrkamp verlegt hat, Titel "Ist der Islam noch zu retten?" Herr Professor Khorchide, ich danke Ihnen!
Khorchide: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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