"Irmgard Keun: Das Werk"

"Ich will schreiben wie Film"

Buchcover: Irmgard Keun: "Das Werk"
Erstmals liegt eine Gesamtausgabe des einstigen "Shootingstars der Literaturszene" vor. © Buchcover: Wallstein Verlag, Foto: picture alliance / dpa
Von Bettina Baltschev  · 02.12.2017
Für ihr literarische Debüt "Gilgi - eine von uns" wird Irmgard Keun 1931 als moderne und frische Schriftstellerin gefeiert. Kurz darauf von den Nazis geächtet, geht sie ins Exil. Nun liegt erstmals eine Komplettausgabe ihres Werkes vor.
Es ist dieses eine Foto auf der letzten Seite des dritten Bandes, das einen nach allem zuvor Gelesenen noch einmal besonders ergreift. Irmgard Keun sitzt 1955 in Köln in ihrer Wohnung. Die Wände sind über und über beklebt mit Postkarten, Bildern und Zeitungsausschnitten. Mit einer Zigarette in der Hand blickt Irmgard Keun melancholisch an der Kamera vorbei ins Weite. Eine glückliche Frau sieht anders aus. 1955, da lebt sie bereits wieder 15 Jahre in Deutschland, nachdem sie zuvor im belgischen und holländischen Exil gewesen war.
Die Kriegsjahre übersteht sie unter falschem Namen, doch auch nach Kriegsende fühlt sie sich unbehaust und allein. "Seit ich von Ihnen und Landshoff Nachricht habe, ist alles etwas heller geworden", schreibt sie am 10. Oktober 1946 an Hermann Kesten, ihren Exil-Verleger. "Ich habe wieder etwas Hoffnung. Die Menschen in Deutschland sind genau wie sie immer waren. Sie tragen keine Hakenkreuze mehr am Anzug, aber sonst hat sich nichts mit ihnen geändert. An Köln ist das beste, dass es kaputt ist. Sowas darf ich aber noch nicht einmal den paar Leuten sagen, die keine Nazis sind und auch keine waren."

Ein Shootingstar der Literaturszene

Doch bevor es zu diesen Zeilen kommt, ist da eine ganz andere Irmgard Keun. Sie gilt es nun mit "Irmgard Keun. Das Werk" wieder und neu zu entdecken. Erstmals sind alle Texte der 1905 geborenen Schriftstellerin vereint und die drei von Heinrich Detering und Beate Kennedy herausgegebenen Bände umfassen zugleich ihre drei sehr unterschiedlichen Lebensphasen.
So widmet sich das erste und schmalste Buch den Arbeiten aus der Zeit der Weimarer Republik. Die junge Frau, die eigentlich Schauspielerin werden wollte, wird bereits mit ihren ersten Romanen zum Shootingstar der Literaturszene.

Charmant, rasant, neu

Selbstbewusst, charmant, rasant und neu ist der Tonfall der Keun in "Gilgi - eine von uns", oder in "Das kunstseidene Mädchen", in dem es schon auf den ersten Seiten programmatisch heißt: "Und ich denke, daß es gut ist, wenn ich alles beschreibe, weil ich ein ungewöhnlicher Mensch bin. Ich denke nicht an Tagebuch - das ist lächerlich für ein Mädchen von achtzehn und auch sonst auf der Höhe. Aber ich will schreiben wie Film, denn so ist mein Leben und wird noch mehr so sein. Und ich sehe aus wie Colleen Moore, wenn sie Dauerwellen hätte und die Nase mehr schick ein bißchen nach oben. Und wenn ich später lese, ist alles wie Kino - ich sehe mich in Bildern."

"Das Leid, mein Freund macht meine Kehle stumm"

Gerade zwei Jahre kann Irmgard Keun unbefangen und frei ihre Sicht auf die Welt formulieren, dann wird ihr Werk von den Nazis geächtet. Was sie jedoch nicht daran hindert weiter zu schreiben. "NS-Deutschland und Exil" lautet der Titel des zweiten Buches dieser Werkausgabe, der umfangreichste Band mit Geschichten, Glossen, Romanen und einigen bisher kaum beachtenden Gedichten. Eines davon schreibt Irmgard Keun 1939 in Amsterdam zum Tode von Joseph Roth, mit dem sie in Liebe und Alkohol eng verbunden war:

Die Trauer, Freund, macht meine Hände dumm.
Wie soll ich aus dem schwarzen Blut der Grachten Kränze winden?
Das Leid, mein Freund macht meine Kehle stumm.
Wo bist du, Freund, ich muss dich wiederfinden.

Während ihre Gedichte von Melancholie umweht sind, gewinnen die Romane Irmgard Keuns in den Jahren zwischen 1933 und 1940 an Schärfe und politischer Brisanz. In "Nach Mitternacht" entwirft sie hellsichtige Szenarien des faschistischen Alltags. In "Kind aller Länder" beschreibt sie aus der herzzerreißenden Perspektive der zehnjährigen Kully das prekäre Leben im Exil.

"Ich habe doch soviel Heimweh nach draußen"

"Es gibt auch Emigranten, die keine Dichter sind. Die Emigranten haben auch Vereine, wo sie sich ungestört zanken können. Viele Emigranten wollen sterben, und mein Vater sagt auch oft, es sei das Beste und einzig Wahre, aber sie sind alle etwas unschlüssig und wissen nicht recht, wie sie es anfangen sollen, denn es genügt nicht, dass man einfach betet: lieber Gott, lass mich bitte morgen tot sein."

Wenn der dritte Band der Werkausgabe mit "Nachkriegszeit und Bundesrepublik" überschrieben ist, so schmerzt vor allem der Zeitraum, den dieser Teil umfasst, 1946 bis 1962. Denn es ist ein Hinweis darauf, dass Irmgard Keun in den letzten 20 Jahren ihres Lebens nicht mehr geschrieben hat. Nach den produktiven Exiljahren veröffentlicht sie zwar auch in Deutschland weiter, schreibt aber nur noch einen Roman, "Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen". Richtig wohl, richtig erkannt, wird sich Irmgard Keun nie mehr fühlen.
"Ich habe doch soviel Heimweh nach draußen", schreibt sie im Februar 1947 an Hermann Kesten und im April desselben Jahres. "Die Hauptsache ist mir nach wie vor - wie komme ich hier raus. Ich werde nächstens mal nach Frankfurt fahren und mich dort anmelden zu dem Rescue & Relief Committee gehe. Die schlechten Verdienst-Möglichkeiten für Schriftsteller in New York erschrecken mich nicht übermäßig."
Doch in New York kommt sie niemals an, bleibt stattdessen in Köln, bekommt eine Tochter, verarmt, wird krank. Erst Ende der 1970er-Jahre erfährt Irmgard Keun eine gewisse Anerkennung vor allem aus feministischen Kreisen, bevor sie 1982 stirbt.

Werkausgabe als späte Wiedergutmachung

Wahrscheinlich muss man die Werkausgabe nun auch als eine späte Wiedergutmachung betrachten. Denn es ist das Lebenswerk einer Frau, die der Herausgeber Heinrich von Detering als "vielleicht aufregendste deutschsprachige Schriftstellerin des 20. Jahrhunderts" bezeichnet. Und auch Ursula Krechel ist in ihrem Vorwort fasziniert von dieser "Schriftstellerin auf Messers Schneide".
Wie all die Texte entstanden und empfangen wurden, das erfährt man in ausführlichen Kommentaren. Aber am Ende ist es die so lebenskluge wie verletzbare, so starke wie zarte Stimme der Irmgard Keun, die beim Lesen sofort und unvermittelt wirkt. Und zwar in allen Rollen ihres Lebens, als schnoddrige Großstadtmieze, als nachdenklich engagierte Exilantin und als fatalistisch-ironische Lady. Hat man die drei schön aufgemachten Bände einmal von vorn bis hinten oder auch querfeldein gelesen, ist man zugleich einmal durch Gefühlslagen gestolpert, die das Leben so hergibt. Von unglücklich verliebt bis quietschvergnügt, von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt. Irmgard Keun: Es bricht einem fast das Herz, dass diese Frau die ihr gebührende Hochachtung nie selbst erfahren durfte.

Irmgard Keun: "Irmgard Keun. Das Werk"
Wallstein Verlag, Herausgegeben im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sowie der Wüstenrot Stiftung von Heinrich Detering und Beate Kennedy
Drei Bände, 2044 Seiten 39 Euro

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