Iris Radisch: "Wir wollen keine Bestseller produzieren"

Moderation: Dieter Kassel · 22.06.2006
Derzeit finden in Klagenfurt die 30. Tage der deutschen Literatur statt. Von Donnerstag bis Samstag stellen sich hier 18 Autorinnen und Autoren vor. Man wolle keinen "Kaufbefehl" aussprechen, sagte Iris Radisch gegenüber Deutschlandradio Kultur. Vielmehr gehe es darum, interessante Texte vorzuführen und zu zeigen, wie man über Literatur streiten könne.
Kassel: Drei Tage lang wird vorgelesen in Klagenfurt, der Hauptstadt des österreichischen Bundeslandes Kärnten. 18 meist noch unbekannte Autoren lesen aus ihren unveröffentlichten Werken. Und neun Juroren diskutieren anschließend über die Qualität der Werke - und zwar öffentlich. Es gibt Publikum im Saal und das Ganze wird live im Fernsehen übertragen. Ab heute findet der Bachmann-Wettbewerb zum 30. Mal statt und am Sonntag, wenn der Preisträger ermittelt wird, da ist dann auch noch der 80. Geburtstag der Namensgeberin Ingeborg Bachmann. Iris Radisch saß seit '95 als normales Mitglied in der Jury - inzwischen ist sie die Vorsitzende der Bachmann-Preis-Jury. Ich begrüße Sie im ORF-Studio in Klagenfurt, guten Tag Frau Radisch!

Radisch: Ja, guten Tag!

Kassel: Wenn man zurückblickt auf die wirklich bewegten späten 70er und auch noch die 80er Jahre, hat man da zu Recht jetzt manchmal den Eindruck, seit einer Weile fehlen in Klagenfurt die großen Skandale?

Radisch: Skandale, das mag sein. Aber ich glaube, dass das im Rückblick auch überbewertet wird, was da an Skandalen los war, weil man natürlich immer nur die selben Ausschnitte sieht. Also die durchschnittene Stirn von Rainald Goetz und so weiter, die Abgänge, die Autorinnen, die wutentbrannt den Wettbewerb verlassen haben, abgereist sind. Das sind dann so Dinge, die immer wieder kolportiert werden. Aber wenn man sich die Listen derjenigen ankuckt, die über die Jahre da waren, die Listen der Preisträger, sieht man, dass der Anteil von Spektakulärem und Unspektakulärem eigentlich immer schon ungefähr gleich groß war.

Kassel: War es nicht immer so, dass bei den Texten auch mal die Langeweile dabei war? Aber man darf ja nicht vergessen, die armen Autoren müssen das ja auch noch vorlesen. Manchmal war der Text ganz brauchbar, aber vorgelesen wurde er nicht so dolle. Und spannend war dann aber, sagten gerade viele Fernsehzuschauer immer, das Geplänkel der Kritiker. Diesen Vorwurf gibt es nun seit 30 Jahren, ich muss den trotzdem noch einmal bringen: Geht es nicht in Klagenfurt manchmal ein bisschen mehr um die Jury als um die Autoren?

Radisch: Das war auch immer schon so. Also da kann man sagen, natürlich die Jury hat einen großen Anteil. Und man kann sogar auch sagen, umso schwächer der Text ist, umso stärker wird die Jury, weil sie ja in einer gewissen Weise diese Spannungslosigkeit ganz automatisch versucht aufzufangen. Ja, man will ja nicht eine Stunde Langeweile haben. Also wenn eine halbe Stunde Langweiliges gelesen würde, versucht die Jury vielleicht noch das Beste aus dieser Stunde zu machen. Und dann wird ihr leicht vorgeworfen, sie spielt sich auf, man macht Witzchen und das sei alles nur Entertainment. Ich finde, oder auch, nach dem, was ich aus alten Jurysitzungen auf CDs und im Fernsehen gehört habe, dass dieser Anteil an Entertainment, aber auch die Seriosität, durchaus auch immer das germanistische Element, ich sehe die großen Unterschiede nicht. Und man kann das eigentlich nicht windschnittig gestalten. Das geht überhaupt nicht, wenn man so viele Juroren und so viele Autoren an einen Tisch bringen will.

Kassel: Nun habe ich so das Gefühl in den letzten Jahren, es hat sich, das haben Sie ja auch erzählt, etwas geändert. Bei der Anzahl der Leute, aber nicht nur der Autoren, sondern auch der Kritiker, da hat es irgendwann auch einen Schnitt gegeben. Und wenn man sich ankuckt, wer sitzt heute in der Jury, dann merkt man schon, dass der Anteil der Literaturkritiker im Vergleich zu den Literaturwissenschaftlern und den Autoren im Laufe der Jahre ja doch gestiegen ist. Ist das so ein Versuch, Klagenfurt auch ein bisschen in der Beurteilung markttauglicher zu machen? Ein bisschen weg von der Literaturwissenschaft?

Radisch: Also wir hatten zwischenzeitlich eine Situation, wo so gut wie gar kein Literaturkritiker mehr in der Jury war. Ich glaube, da hat man dann darauf versucht zu reagieren: Na ja, hier werden immer nur Urteile gefällt und diese Kritiker, die stehen für nichts ein, die können immer nur meckern und so weiter. Und dann hat man eben so diese Seite des Werkstattgespräches ein bisschen betonen wollen. Und es gab Jahre, da war fast kein Kritiker oder zumindest kein schreibender Kritiker mehr in der Jury. Das fand ich nicht gut. Und wenn man sich zum Beispiel die erste, die allererste Jury - wir haben ja jetzt 30. Geburtstag sozusagen - da waren fast keine Schriftsteller. Hans Weigel, Manès Sperber, gut, Autor natürlich, aber nicht Schriftsteller. Friedrich Torberg, gut, Gertrud Fussenegger, auch Autorin. Aber Rudolf Walter Leonhard, Heinrich Vormweg, Hans Weigel, Ernst Willner und selbstverständlich Marcel Reich-Ranicki – also das kritische Element war sehr stark.

Kassel: Bleiben wir jetzt einmal beim kritischen Element, was den Bachmann-Preis jetzt angeht. Wenn man kuckt, was in den Zeitungen jetzt stand, da ist der Respekt vor dem 30. Geburtstag doch relativ gering. Olaf Petersenn zum Beispiel vom Verlag Kiepenheuer & Witsch, der hat gesagt, ein Sieg in Klagenfurt sei inzwischen nicht nur nicht mehr nützlich für die Auflage eines Buches, sondern er sei sogar schädlich. Weil offenbar die normalen Leser sagen, wenn dieser elitäre Zirkel etwas toll fand, dann ist es nicht mehr mein Buch. Sie lachen, Gott sei Dank, ich dachte, Sie reagieren jetzt empfindlich. Aber ich dachte, man hat doch das Gegenteil versucht, es wird in voller Länge im Fernsehen übertragen. Das ist ja eigentlich eben, glaube ich, vom Grundgedanken her eine Veranstaltung, die ein geschlossener Zirkel gar nicht sein will.

Radisch: Nein, natürlich nicht. Aber es geht natürlich nicht darum, Büchern Auflage zu bescheren. Da gibt es ganz andere Möglichkeiten, auch im Fernsehen ganz andere Möglichkeiten. Was mich viel mehr interessiert ist, den Zuschauern zu zeigen, wie man über Literatur denken kann, reden kann, wie man sich über Literatur streiten kann. Also eigentlich geht es um die Weisen der lebendigen Auseinandersetzung. Und eben überhaupt letztlich, obwohl es um Preise geht, nicht darum, kauft das oder kauft das nicht - Kaufbefehl ja oder nein. Wir sind natürlich kein Marktinstrument, wie das andere Fernsehsendungen ganz klar sind. Und die Sendungen hat man ja. Die Sendungen, die wirklich Markteinfluss und zwar massiv Markteinfluss nehmen, die hat man ja. Und die Literatur, die dafür tauglich ist, das gebe ich zu, die haben wir hier nicht. Die haben wir hier nicht und ich muss auch ganz selbstbewusst sagen, die wollen wir vielleicht auch gar nicht haben. Wir wollen hier keine Bestseller produzieren. Sondern wir wollen interessante Literatur hier vorführen und zeigen, wie das ist, wenn Leute, die Literatur lieben, die sich ihr ganzes Leben eigentlich mit nichts anderem beschäftigen, wenn die zusammensitzen und sich darüber streiten. Das, denke ich, könnte für Zuschauer interessant sein. Darum geht es.

Kassel: Es ging doch anfänglich auch einmal darum, jungen Menschen eine Chance zu geben. Wenn man sich ankuckt, diesmal dabei einer der Teilnehmer Bodo Hell, Jahrgang 1943. Er mag vielleicht ein besonders krasses Beispiel sein, aber es gibt auch andere Autoren, die ja nun junge Menschen ohne Erfahrung nicht sind. Ist man da nicht manchmal ein bisschen inkonsequent?

Radisch: Na ja, es ist nie ein reiner Nachwuchswettbewerb gewesen. Und Bodo Hell ist nun wirklich jemand, der auf der großen literarischen Bühne noch gar nicht da ist. Der da, wenn überhaupt, erst zu entdecken ist. Jemand, der sich immer mehr im Avantgardebereich sozusagen am Randbezirk des literarischen Lebens aufgehalten hat. Klar sollte das nicht, der allgemeine Durchschnitt sollte nicht 63 Jahre alt sein. Das ist überhaupt keine Frage. Und wir haben ja auch sogar einige, die noch unter 30 sind in dem Wettbewerb. Ich würde das nie so kategorisieren und sagen, das ist nur ein reiner Nachwuchswettbewerb. Ich finde, der Charme von Klagenfurt ist gerade dieses Chaos. Dass man eben nicht weiß, was ist es denn nun eigentlich, ist es ein Talentschuppen, ist es eine Börse für die Lektoren, ist es eigentlich eine Werkstatttagung, ist es eine reine Modenschau. Das ist es natürlich auch, was es vital hält. Und was es auch auf eine Strecke hin unberechenbar hält.

Kassel: Da stimme ich völlig mit Ihnen überein, Frau Radisch. Umso mehr hat mich geärgert als - war das '96 oder '97 - als damals beschlossen wurde, dass die Jurymitglieder die Texte nun doch vorher kriegen. Denn bis dahin war das ja nicht so. Da saß wirklich die Jury in Klagenfurt und wusste auch nicht, was auf sie zukommt. Inzwischen kriegen die die Texte vorher. Hat das nicht die Sache einen Hauch langweiliger gemacht?

Radisch: Also die Juroren kriegen das eine Woche vorher und ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, ich bin mir nicht im Klaren, ob das eine Verbesserung ist. Und ganz unter uns gesagt - was ja nun im Radio ein bisschen komisch klingt - weiß ich auch, dass es Juroren gibt, die das nicht lesen, die sich den Spaß nicht verderben wollen. Die das zwar kriegen, aber die dann gar nicht reinkucken, weil sie dieses jungfräuliche Gefühl haben wollen. Andere brauchen das, andere brauchen das Netz, haben Angst, da sich so Blößen zu geben. Also ich habe beides mitgemacht. Ich bin ja nun wirklich schon eine Jury-Veteranin. Ich kenne das alte Modell, kenne das neue Modell. Und wenn ich mich noch einmal entscheiden müsste, würde ich persönlich, glaube ich, das alte inzwischen auch wieder vorziehen.

Kassel: Frau Radisch, bevor wir uns verabschieden: In diesen drei Tagen - ich meine, auch in Klagenfurt kriegt man das mit - passiert ja noch mehr als der Bachmann-Wettbewerb. Gehen denn die Kritiker und vielleicht auch die Autoren zwischendurch, wenn mal nichts stattfindet, raus und kucken Fußball?

Radisch: Ja, das glaube ich schon. Das fürchte ich ja, dass das so sein wird. Wir haben natürlich unten in der Kantine einen Fernseher stehen, wo unser Programm läuft. Aber ich fürchte, dass es da einen Umschaltknopf gibt.

Kassel: Das kommentiere ich nicht. Iris Radisch, die Chefin der Jury des Bachmann-Wettbewerbs. Bei 3sat, wo kein Fußball läuft, da kann man den Wettbewerb auch in Deutschland natürlich ohne jede Einschränkung beobachten. Am Sonntag wird feststehen, wer der diesjährige Bachmann-Preisträger oder -Preisträgerin ist. Und wenn alles klappt, werden wir am Montagmorgen um neun Uhr mit ihm oder mit ihr reden. Frau Radisch, ich danke Ihnen und wünsche Ihnen anstrengende, aber wunderbare Tage.

Radisch: Dankeschön, tschüss.