IQ-Tests

Intelligenz und Vorurteil

30:04 Minuten
Vor türkisem Hintergrund ist ein aus Pappe gebasteltes Gehirn zu sehen.
Wie lässt sich die Intelligenz eines Menschen zuverlässig bestimmen? Und was resultiert daraus? © Getty Images / Digital Vision / Hiroshi Watanabe
Von Thomas Reintjes · 22.12.2022
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IQ-Tests nehmen für sich in Anspruch, die Intelligenz eines Menschen zu messen. Doch ihre Aussagekraft ist umstritten. Dennoch werden sie oft eingesetzt und sind so im Extremfall auch ein Einfallstor für soziale und ethnische Diskriminierung.
Paul, zehn Jahre alt, stört in der Schule, vor allem nachmittags in der Hausaufgabenbetreuung. Vielleicht, weil er sich langweilt und unterfordert ist? Die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Hannah Theisen will das in ihrer Praxis in Wesel mit einem Intelligenztest herausfinden.
Die Einzelaufgaben lassen sich fünf Kategorien zuordnen, aus denen sich fünf Kennwerte ergeben.

Kennwert eins: visuell-räumliches Denken

Theisen: Als erstes gibt' e hier so Würfel.
Paul: Mhm.
Theisen: Die Würfel sind alle gleich. Die haben nämlich alle zwei weiße Seiten, zwei rote Seiten und zweimal so halb rot und halb weiß. Und ich zeige dir in diesem Buch eine Vorlage.
Paul: Aha.
Theisen: Und du musst das sozusagen nachpuzzeln.

Es ist schwieriger, als es sich anhört, denn in der Vorlage ist nicht immer gleich zu erkennen, wie sich die Figur aus den roten und weißen Quadraten und Dreiecken zusammensetzen lässt. Noch dazu geht es auf Zeit, und nach und nach werden die Aufgaben immer schwieriger.
Lässt sich mit solchen Knobelaufgaben die Intelligenz eines Viertklässlers zuverlässig messen? Intelligenz sollte doch komplexer sein als fünf Kennwerte. Emotionale Intelligenz und andere Konzepte versuchen, das abzubilden. Und ist es gerechtfertigt, aus dem Intelligenzquotienten Konsequenzen zu ziehen, die das ganze spätere Leben beeinflussen können? Ein Blick auf die Entstehungsgeschichte von IQ-Tests lässt Zweifel aufkommen.

Die Geschichte des Intelligenztests

Im Jahr 1904 ist das französische Schulministerium auf der Suche nach einer Methode, um Kinder zu identifizieren, die besondere Förderung brauchen. Der Psychologe Alfred Binet forscht zu diesem Zeitpunkt schon seit Jahren an Tests für die geistige Leistungsfähigkeit. 1905 präsentiert er zusammen mit dem Arzt Théodore Simon Testaufgaben, um das sogenannte Intelligenzalter eines Kindes festzustellen. Dazu haben Binet und Simon die unterschiedlich schwierigen Aufgaben jeweils einem Alter zugeordnet, ab dem ein Kind sie lösen können sollte.
Nach Binets Tod entwickelt der amerikanische Psychologe Lewis Terman an der Universität Stanford den Test weiter. Er veröffentlicht 1916 den Stanford-Binet Intelligenztest, in dem erstmals ein Intelligenzquotient errechnet wird. Das Intelligenzalter der Testperson geteilt durch das biologische Alter mal Hundert. Bei einem zehnjährigen Kind mit einem Intelligenzalter von zwölf ergibt sich so ein IQ von zwölf durch zehn mal Hundert, gleich 120.
Binet wollte also ermitteln, wo Kinder Förderbedarf haben, und nicht, welche Kinder oder gar Erwachsene besonders begabt sind, und doch werden IQ-Tests und ähnliche Verfahren heute oft eingesetzt, um Kandidaten für Begabtenprogramme auszuwählen, den Zugang zu Elite-Universitäten zu regulieren oder die beste Bewerberin für einen Job zu finden. Binet warnte sogar davor, die Intelligenz eines Menschen auf eine Zahl zu reduzieren.
Schwarzweißaufnahme von 1907: In einem dunkelgetäfelten Schulzimmer sitzen mehrere Jungen auf Holzstühlen. Der Psychologe Alfred Binet mit schwarzem Frack, Brille und Bart zeigt ihnen Aufgaben aus einem psychologischen Test.
Gemeinsam mit dem Arzt Theodore Simon führte der Psychologe Alfred Binet Anfang des 20. Jahrhunderts Intelligenztests an Kindern durch.© imago / KHARBINE-TAPABOR
"Einfach zu tun, als sei der Intelligenztest ein fixer Wert, das ist schon ein Problem", sagt Elsbeth Stern, Professorin für Lehr- und Lernforschung an der ETH Zürich. Sie wolle nicht, dass Menschen IQ-Werte wie einen Stempel betrachten.
Intelligenz ist formbar. "Lernen macht intelligent" lautet der Titel eines ihrer Bücher. Trotzdem hält Elsbeth Stern IQ-Tests für ein gutes Mittel, um Intelligenz zu messen. Das Ergebnis taugt für sie als ein Kriterium etwa für Personalentscheidungen. "Sie lassen sich schon dann sinnvoll einsetzen, wenn man das Potenzial eines Menschen erfassen will, aber bisher eben nicht konkrete Maße hat", sagt sie. Also beispielsweise, wenn man eine völlig neue Tätigkeit ausüben soll oder in ein Studium aufgenommen werden soll, wo man noch keine Vorleistung erbracht hat. "Dann weiß man ja nicht, wie er mit dem Wissen umgehen wird. Aber sobald man konkretes Wissen hat, ist es natürlich sinnvoller, einen Test heranzuziehen, der eben dieses konkrete Wissen erfasst, das man später im Beruf oder auch in der Schule braucht."

IQ-Werte korrelieren mit Lebenserfolg

Statt Wissen abzufragen, testen Intelligenztests, wie gut jemand sich neues Wissen aneignen kann. "Intelligenztests messen vor allen Dingen die Fähigkeit zum schlussfolgernden Denken, wie gut man aus bestehender Informationen, aus bestehendem Wissen neues Wissen ableiten kann und wie gut man eingehende Informationen integrieren kann." Intelligenztests messen also auch, wie gut man lernt.
Elsbeth Stern hat großes Vertrauen in die Ergebnisse von IQ-Tests. Ja, sie haben Fehler, wie alle Messungen. Sie können von der Tagesform abhängen, von der Testumgebung, selbst von der Person, die den Test durchführt und ihrer Voreingenommenheit. Aber im Wesentlichen sind die Werte stabil, und wer mehrfach getestet wird, kommt normalerweise immer auf in etwa denselben Wert.
Dieser IQ-Wert hat für Elsbeth Stern Gewicht und Aussagekraft, auch wenn er einen Menschen nicht in seiner ganzen Komplexität erfasst. Es gebe sicherlich mehr im Leben als schlussfolgerndes Denken, sagt sie. "Aber das Interessante an dem Intelligenztest-Ergebnis ist, dass es auch mit Lebenserfolg im weiteren Sinne korreliert." Das habe eine große Längsschnittstudie gezeigt, die in Schottland durchgeführt wurde, bei der Probanden mit zehn Jahren erstmals erfasst wurden und später mit 60 Jahren noch einmal.
"Da gab es erstens eine hohe Stabilität, und man hat auch gefunden: Es hing sehr eng mit Berufserfolg, mit Lebenserfolg zusammen, dass man im Allgemeinen, wenn man intelligenter ist, natürlich nicht gefeit ist vor Schicksalsschlägen. Man hat auch persönliche Probleme, Scheidung und alles Mögliche. Aber je intelligenter die Menschen waren, umso besser konnten sie auch mit den Problemen, die das Leben für jeden mit sich bringt, umgehen." Ist also heute schon vorherbestimmt, wie erfolgreich der zehnjährige Paul sein Leben meistern wird?

Kennwert zwei: fluides Schlussfolgern

Theisen: Hier ist ein Fragezeichen drin. Hier unten sind fünf verschiedene Antwortmöglichkeiten-Bildchen. Und du sollst sagen, welches von diesen Antwortmöglichkeiten das logischste Bild wäre, wenn man das hier einfügen würde.
Paul: Darf ich sagen?
Theisen: Ja.
Paul: Kreis.
Theisen: Du kannst da unten die Zahl nennen.
Paul: Drei.
Theisen: Genau. Dann hast du zwei gelbe Vierecke und zwei gelbe Kreise.
Paul: Rote Kreise.
Theisen: Rote Kreise, vielen Dank für die Berichtigung. Genau, rote Kreise, dann würde das am besten passen.

Er wisse nicht, was sein IQ ist und es sei ihm auch egal, sagt Robert Sternberg, Professor an der Cornell University im US-Bundesstaat New York. Er stimmt zu, IQ-Tests messen etwas, das mit Erfolg zusammenzuhängen scheint.
Aber es sei nicht unbedingt die Art von Erfolg, die der Gesellschaft oder der Menschheit nützt: "Sind Sie kreativ? Haben Sie gesunden Menschenverstand? Sind Sie fleißig? Sind Sie sorgfältig? Sind Sie gewissenhaft? Sind Sie strebsam? Es gibt viele, viele Dinge, die IQ-Tests nicht messen. Was sie auch nicht messen, ist Weisheit, was heute so wichtig ist im Leben: sich nicht nur um sich selbst zu kümmern, sondern auch um so etwas wie Gemeinwohl", so Sternberg.
"Es gibt einen ernstzunehmenden Klimawandel. Luftverschmutzung wird schlimmer, Wasserverschmutzung wird schlimmer. Eine Million Arten sind vom Aussterben bedroht oder schon ausgestorben. Wir bereiten uns nicht angemessen auf Pandemien vor. Wir setzen zu viele Antibiotika ein, sodass sie wirkungslos werden."
Der Campus der Harvard-Universität mit der Harry Elikins Widener Memorial Library.
Amerikanische Universitäten nutzen Intelligenztests in unterschiedlichem Maß bei Aufnahmeprüfungen: Manche schauen nur darauf, andere verzichten auf den IQ-Test.© imago stock&people
In westlichen Gesellschaften werden Menschen mit höherem IQ oft bessere Chancen eingeräumt. Wer sich für ein College bewirbt, muss einen Test absolvieren, der IQ-Tests ähnelt. In Assessment Centern werden Bewerber und Bewerberinnen auch aufgrund des Intelligenzquotienten ausgesiebt, und der IQ bestimmt, wer in Hochbegabtenprogramme oder geschlossene Zirkel wie Mensa aufgenommen wird.
Dass Tests etwa bei der Auswahl von Studierenden in den USA zu viel Gewicht beigemessen wird, findet auch der Psychologe James Kaufman von der Universität von Connecticut. "In den Vereinigten Staaten gibt es diese großen Tests, die sehr entscheidend dafür sind, ob man auf das College kommt oder nicht." Universitäten nutzten sie in unterschiedlichem Maße. "Manche nutzen sie gar nicht, manche basieren ihre Entscheidung zu 90 Prozent darauf. Das hängt davon ab, ob eine Universität Studierende haben möchte, die gute Noten bekommen, oder Studierende, die etwas in der Welt bewegen."

Sollte Kreativität einen höheren Stellenwert bekommen?

Kaufmann wuchs mit IQ-Tests auf. Seine Eltern sind beide Psychologen, die Tests entwickeln. Einerseits verteidigt er IQ-Tests. Sie würden zwar Kreativität, praktische Fähigkeiten oder zwischenmenschliche Fähigkeiten nicht messen, aber sie würden auch nicht behaupten, diese Formen von Intelligenz zu messen.
Andererseits würde sich Kaufman wohl wünschen, dass vor allem die Kreativität, an der er forscht, einen höheren Stellenwert bekäme: "Man könnte zum Beispiel fragen: Wie viele Anwendungen fallen Ihnen für eine leere Wasserflasche ein? Innerhalb einer bestimmten Zeit, und jemandem fielen Dinge ein wie: Man könnte damit auf etwas schlagen. Man könnte sie in die Luft werfen. Man könnte sie als Behausung für eine kleine Wüstenrennmaus benutzen und so weiter. Dann könnte man das in verschiedenen Kategorien bewerten, etwa Geläufigkeit, also wie viele Antworten relevant sind, und Originalität, also wie außergewöhnlich die Antworten sind."
Das wäre ein eher klassischer Ansatz eines Kreativitätstests. James Kaufman hätte es gerne etwas ambitionierter: "Etwas Experimentelleres, das wir machen, ist, Leute tatsächlich etwas Kreatives machen zu lassen: ein Bild malen, eine Geschichte schreiben, ein wissenschaftliches Experiment entwerfen oder eine Melodie komponieren. Dann bewerten Experten das."

IQ-Tests sind ein lukratives Geschäft

Die Tufts-Universität in der Nähe von Boston hat das ausprobiert. Angehende Studierende konnten vor einigen Jahren ein Kreativprojekt einreichen, als optionalen Zusatz zur Bewerbung. Acht verschiedene Themen standen zur Auswahl, meist sollten Aufsätze geschrieben werden.

1. Es ist 1781 und die amerikanischen Kolonien sind von den Briten geschlagen worden. Stellen Sie sich die Geschichte vor ohne die Vereinigten Staaten, wie wir sie kennen.
2. Sind wir allein?
4. Kermit der Frosch hat bekanntermaßen beklagt: "Es ist nicht leicht, grün zu sein." Stimmen Sie zu?
6. Kreieren Sie etwas mit einem Blatt A4-Papier. Sie können ihr zukünftiges Haus zeichnen, ein neues Produkt entwerfen, einen Comic zeichnen, ein Kostüm entwerfen oder Theaterkulissen, einen Soundtrack komponieren oder etwas ganz anderes machen. Lassen Sie Ihrer Kreativität freien Lauf.

"Das Problem damit ist, es ist sehr mühsam. Es kostet eine Menge Arbeitsstunden und Ressourcen", sagt James Kaufman. "Teil des Problems ist auch, dass das Testen ein Geschäft ist, mit dem Geld verdient wird. Es gibt nicht dieselbe Nachfrage für Kreativitätstests. Die meisten großen IQ-Tests wollen das machen, was sie schon immer gemacht haben, auf Nummer sicher gehen, statt Neues zu erkunden."
Viele Aufgaben in IQ-Tests haben sich seit hundert Jahren kaum geändert. Schon der Erfinder der Intelligenztests, Alfred Binet, ließ Kinder Zahlenreihen vorwärts und rückwärts wiedergeben. Er ließ sie Begriffe definieren: Was ist ein Haus? Was ist Geld? Und er fragte sie, was Fliegen und Ameisen gemeinsam haben.

Kennwert drei: Sprachverständnis

Theisen: Als nächstes sage ich dir immer zwei Wörter und du sollst überlegen, was haben diese beiden Dinge gemeinsam.
Paul: Aha.
Theisen: Was haben die für Gemeinsamkeiten? Was können die gleich? Was haben die für gleiche Eigenschaften? Wenn ich also zum Beispiel sage: Was haben drei und vier gemeinsam?
Paul: Das sind beides Zahlen.
Theisen: Beides sind Zahlen. Ganz genau. Okay? Gut. Was haben rot und grün gemeinsam?
Paul: Das sind beides Farben.
Theisen: Da geht's nicht auf Schnelligkeit. Alles gut. Was haben Pferd und Kuh gemeinsam?
Paul: Das sind beides Tiere.
Theisen: Kannst du das sogar noch genauer sagen?
Paul: Man kann auf beiden Tieren reiten?
Theisen: Bist du schonmal auf einer Kuh geritten?

Das hätte zumindest einen Kreativitätspunkt bringen sollen. Den Kreativitätstest an der Tufts University hat Robert Sternberg entwickelt. Erfolgsintelligenz, "successful intelligence", nennt er sein Konzept. Kreativität ist dabei nur ein Teilaspekt von mehreren: "Kreative Fähigkeiten, um Ideen zu entwickeln, analytische Fähigkeiten, um zu beurteilen, ob die Ideen gut sind, und praktische Fähigkeiten, um die Ideen einzusetzen und andere davon zu überzeugen. Dieser Test war sehr erfolgreich, im dem Sinne, dass er akademischen Erfolg auf dem College doppelt so gut vorhergesagt hat, und er hat die Unterschiede zwischen ethnischen und sozioökonomischen Gruppen drastisch reduziert."
Dieser letzte Punkt ist einer der größten Kritikpunkte an klassischen IQ-Tests. Sie benachteiligen bestimmte Bevölkerungsgruppen. Sogar ganze Nationen schneiden deutlich schlechter ab als andere. Das führt zu einem Ungleichgewicht an Bildungs- und Karrierechancen.

Der IQ als Werkzeug rassistischer Diskriminierung

Eine Theorie: Je wärmer das Klima, desto geringer der IQ. Menschen, die in kälteren Klimazonen leben, müssen wegen des Winters mit weniger Ressourcen auskommen und größere Probleme lösen. Deshalb besteht dort ein größerer Evolutionsdruck für Intelligenz. IQ-Unterschiede zwischen beispielsweise Norwegen und Kenia wären demnach genetisch manifestiert. Dazu würde passen, dass Afroamerikaner bis heute im Durchschnitt einen um etwa 15 Punkte niedrigeren IQ haben als weiße Amerikaner.
Theorien wie diese halten sich hartnäckig, auch in der Wissenschaft, obwohl schon die Grundannahme fragwürdig ist, sagt der Biologe Joseph Graves:. "Die Behauptung, dass Überleben im Winter aus irgendeinem Grund schwieriger ist als in den Tropen, entbehrt jeglicher Grundlage. In den Tropen gibt es genauso viele schwierige Probleme wie in Zonen, wo es Winter gibt. Wie baut man Nahrungsmittel an? Wie vermeidet man Parasiten? Es gibt keine Grundlage dafür, dass es etwas mit Anpassung zu tun hat."
Joseph Graves forscht an einem Gemeinschaftsinstitut für Nanotechnik von Universitäten in North Carolina. Er bestreitet nicht, dass Intelligenz von den Genen abhängt und vererbbar ist. "Absolut, Intelligenz ist vererbbar. Sie basiert auf Genen. Je nach Studie wird die Erblichkeit als 0,4 bis 0,5 eingeschätzt. Das heißt, Intelligenz hängt zur Hälfte von den Genen ab, zur anderen Hälfte von der Umwelt. Wenn das stimmt, dann wäre Intelligenz eine der am stärksten vererbbaren Eigenschaften überhaupt. Mal abgesehen von der Körpergröße liegen stark vererbbare Eigenschaften sonst eher zwischen 0,35 und 0,3."

Intelligenz hat eine genetische Grundlage

Eine vergleichsweise hohe Erblichkeit bedeutet aber noch nicht, dass es eine Assoziation gibt zwischen den Genen, die etwa die Hautfarbe bestimmen, und denen, die für die grauen Zellen zuständig sind. "Es gibt absolut keine Belege dafür, dass genetisch bedingte Unterschiede zwischen Menschengruppen etwas mit den genetischen Grundlagen von Intelligenz zu tun haben", betont Graves.
Trotzdem unterscheidet sich der Durchschnitts-IQ. Der im Vergleich zu Weißen geringere IQ von Schwarzen in den USA hat sich im wahrsten Sinne in den Köpfen festgesetzt.
Die Wissenschaftsautorin Harriet Washington beschreibt in ihrem Buch "A terrible thing to waste" die Erlebnisse einer Mutter, die mit ihrem Sohn nach Florida gezogen war. Zuvor sei das Kind unter den Klassenbesten gewesen, aber plötzlich wollte der Junge nicht mehr zur Schule gehen. Die Mutter fragte, warum. "Er sagte, sie haben mich in die Dummenklasse gesteckt. Das ist jetzt kein Begriff, den ich benutzen würde, Kinder halt. Die Mutter fand heraus, dass sie ihn in die Förderklasse gesteckt hatten."

"Sie testen jetzt routinemäßig alle Kinder"

Niemand hatte das mit der Mutter besprochen, niemand hatte das Kind getestet. Begründet worden sei die Entscheidung mit der IQ-Differenz zwischen Schwarzen und Weißen. "Sie sagten, die IQ-Differenz ist nun mal Realität. Aber wir werden unser Bestes geben, um ihm die bestmögliche Unterstützung zu bieten, als ob das Kind ein Defizit hätte."
Geschockt habe die Mutter festgestellt, dass in der Begabtenklasse hauptsächlich weiße Kinder saßen und in der Förderklasse schwarze und Hispanics. Sie drohte mit einer Klage, und in der darauffolgenden Woche sei der Sohn getestet worden und dann in die Begabtenklasse gewechselt, und das Schulamt zog Konsequenzen. "Sie testen jetzt routinemäßig alle Kinder und weisen sie entsprechend der Ergebnisse den schnelleren oder langsameren Klassen zu, und interessant ist, dass plötzlich diese Begabtenklassen voller Schwarzer und Hispanischer Kinder waren. 130 Prozent mehr Kinder aus lateinamerikanischen Einwandererfamilien im ersten Jahr. Das hat sehr deutlich gemacht, dass die subjektiven Einschätzungen der Lehrer nicht zutreffend waren."

Kennwert 4: Arbeitsgedächtnis

Theisen: Fünf, vier, eins, sieben.
Paul: Fünf, vier, eins, sieben.
Theisen: Neun, eins, sechs, acht.
Paul: Neun, eins, sechs, acht.
Theisen: Acht, zwei, eins, neun, sechs.
Paul: Acht, zwei, eins, neun, sechs.
Theisen: Sieben, zwei, drei, vier, neun.
Paul: Sieben, drei, sechs, vier, neun?

Und doch stimmt es, dass unterschiedliche Bevölkerungsgruppen unterschiedlich hohe IQ-Werte erreichen und ebenso verschiedene Länder auf verschiedene Durchschnitts-IQs kommen. Das hat mehrere Gründe, die Umweltfaktoren, die Jospeh Graves erwähnt hatte.
Ihm zufolge bestimmen die Gene etwa zur Hälfte unsere Intelligenz. Eine Art Grundintelligenz, die wir in die Wiege gelegt bekommen. Aber was wir daraus machen oder machen können, ist zum großen Teil dadurch bestimmt, wo und wie wir aufwachsen.
"Es gibt reichlich Belege, die den Umwelteinfluss auf die Kognition auf der ganzen Welt zeigen", sagt Graves. Am naheliegendsten: die direkte Umwelt eine Kindes, das Elternhaus, die Kita, die Schule. Denn Intelligenz müsse sich entwickeln, betont Elsbeth Stern. Man brauche eine Umwelt, die einen geistig fordert. O"hne dass man Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt hat, kann man nicht die Intelligenz erwerben, die in Intelligenztests erfasst wird, und das kann man auch nicht in kurzer Zeit nachholen. Von daher ist schon immer noch die Frage, wie muss eine Umwelt aussehen, damit wir unser Intelligenzpotenzial, das eben aufgrund genetischer Unterschiede variiert, wirklich voll ausschöpfen können."
Elektronisches Gehirn verbunden mit Computertechnologie.
Unterschiedliche Umgebungen verlangen unterschiedliche Fähigkeiten: Intelligenz ist stark von Umwelteinflüssen abhängig.© imago / Ikon images / Oliver Burston
Dabei können IQ-Tests als wissenschaftliches Instrument dienen. Wenn Kinder aus verschiedenen Umgebungen auf unterschiedliche Ergebnisse kommen, erlaubt das Rückschlüsse darauf, welche Umgebung Intelligenz stärker fördert. Klar ist aber: Wer bildungsfern aufwächst, hat schlechtere Chancen in IQ-Tests. Das hilft auch zu erklären, weshalb IQ-Tests in vielen Entwicklungsländern schlechter ausfallen: Schule hat dort oft einen anderen Stellenwert. Andere Fähigkeiten zählen dafür mehr – wie in jeder Umgebung angepasste Fähigkeiten gefragt sind.
Robert Sternberg hat das etwa in Kenia untersucht und kommt zu dem Schluss: Würden die Kenianer die Tests entwerfen, sähen viele von uns ziemlich dumm aus. "Überlegen Sie mal, wie gut Sie in einem Eisfischer-Dorf in Alaska zurechtkommen würden oder in einer Gang-Kultur, ob in Ihrem eigenen Land oder in Mittelamerika, in Honduras oder wo auch immer. Sie müssen Fähigkeiten entwickeln je nach Umgebung. Das gilt auch für die Einwanderer in Deutschland, die aus anderen Umgebungen gekommen sind als der in Deutschland. Wenn man deren Intelligenz mit seinen eigenen Tests misst, natürlich erscheinen die dann weniger schlau."

Schadstoffe schaden auch dem IQ

Und schließlich ist Gesundheit ein wichtiger Umweltfaktor. Ernährung gehört dazu, aber auch wie vielen Umweltgiften Kinder ausgesetzt sind. "Wenn Sie von Luftverschmutzung betroffen sind, Blei, Arsen, Industriechemikalien, die sich bekanntermaßen auf das kognitive System auswirken, dann hat das einen großen Effekt. Es ist wichtig, das zu bedenken", sagt Harriet Washington.
Nachdem verbleites Benzin verboten wurde, stieg der durchschnittliche IQ. Zu den Gesundheitsfaktoren gehören auch Infektionskrankheiten und Parasiten, die die Intelligenz beeinträchtigen können. Insbesondere, wenn Kleinkinder während der Entwicklung ihres Gehirns krank werden, kann das dramatische Auswirkungen haben.
In ihrem Buch legt Harriet Washington dar, weshalb sich viele dieser Umweltfaktoren stärker negativ auf People of Color auswirken als auf weiße Amerikaner: "Afroamerikaner und Menschen aus mittelamerikanischen Einwandererfamilien werden gezwungen, in Gegenden zu leben, die direkt an Industrie angrenzen oder an Busdepots oder wo das Wasser belastet ist, wie wir es aus Flint und Detroit gehört haben. Diese erzwungene Nähe zu Dingen, die der Kognition schaden, ist es, was den niedrigeren IQ verursacht."
Umgekehrt erklären alle diese Umweltfaktoren auch, weshalb die Intelligenz im Durchschnitt immer weiter steigt. Wir leben gesünder. Allein die Einführung von Jodsalz hat laut Harriet Washington den IQ um 15 Punkte gehoben.

Kennwert 5: Verarbeitungsgeschwindigkeit

Theisen: Und stopp!
Paul: Mann!
Theisen: Was, Mann? War doch gut!
Paul: Alter, wie weit wär' das denn da noch weiter gegangen? Hat das schon mal jemand bis dahin geschafft?

Pauls Test ist nach gut einer Stunde zu Ende. Eine Woche später bekommen er und seine Mutter das Ergebnis. Die fünf Kennwerte und den daraus errechneten Gesamt-IQ. Die Therapeutin Hannah Theisen weiß, dass schon der Test selbst zeigt, dass die nackte Zahl nicht die ganze Wahrheit ist:
"Gerade in unserem Bereich, mit den Kindern und Jugendlichen, ist nicht nur das Ergebnis, also die reine IQ-Zahl, die dabei rauskommt, für uns ausschlaggebend und interessant, sondern eigentlich auch viel mehr das Verhalten während der Testungen, der Umgang in dieser Testsituation. Auch das spiegelt für uns natürlich nochmal viel wider, was man dann auch auf Schule und auf Lernverhalten übertragen kann. Deswegen sehen wir da gar nicht unbedingt den reinen IQ-Wert, sondern eigentlich das ganze Drumherum."
Auch wenn der Test nur einen Ausschnitt der Persönlichkeit zeigt, hilft er der Therapeutin, Stärken und Schwächen eines Kindes zu identifizieren – um dann vor allem an den Stärken zu arbeiten: "Wo sind meine Stärken? Und wie kann ich die eigentlich noch viel besser für mich einsetzen? Was können wir mit unseren Stärken anfangen, um vielleicht halt eben auch die Schwächen ein Stück weit auszubalancieren. "
Pauls Intelligenztest spiegelt ohne Frage wider, wie gut er schlussfolgern und räumlich denken kann, wie gut sein Arbeitsgedächtnis ist und sein Sprachverständnis, wie gut seine kognitiven Fähigkeiten sind – im Vergleich zu anderen Kindern, die im selben sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Kontext aufwachsen. Der Wert eines IQ-Tests ist mehr als nur eine Zahl. Denn er kann die Teilhabe und den gesellschaftlichen Erfolg von Menschen beeinflussen und wird damit auch zum sozialpolitischen Instrument derer, die ihn einsetzen. Zu welchen Zwecken ein IQ-Test dient und welche Generalisierungen und Vergleiche daran geknüpft sind, ist auch ein Spiegel aktueller gesellschaftlicher Debatten.

Sprecher*innen: Max Urlacher, Anika Mauer, Maximilian Held, Friederike Wigger
Ton: Hermannn Leppich
Regie: Friederike Wigger
Redaktion: Jana Wuttke

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