Inzko: Zeit ist reif für neuen Anlauf

Valentin Inzko im Gespräch mit Christopher Ricke · 04.10.2010
Der Hohe Repräsentant in Bosnien und Herzegowina und EU-Sonderbeauftragte, Valentin Inzko, hat nach der Wahl in dem Vielvölkerstaat mehr gemeinsame Anstrengungen der noch immer zerstrittenen Volksgruppen und ein Ende der Stagnation gefordert. Er regt einen "Wettbewerb im Positiven" an.
Christopher Ricke: Es ist eine zutiefst zerstrittene und sich teilweise feindlich gesinnte Familie, die aber zusammenleben muss. Mit Nachnamen heißt diese Familie Bosnien-Herzegowina, und in ihr leben katholische, kroatische, serbisch-orthodoxe und muslimische Bosniaken. Sie alle sind zerstritten, und doch haben sie gestern Präsident und Parlamente gewählt. Bosnien-Herzegowina ist ein europäisches Land, der Weg zur EU ist aber wohl noch ein weiter. Ich spreche jetzt mit Valentin Inzko, es ist der Hohe Repräsentant in Bosnien-Herzegowina. Er ist auch EU-Sonderbeauftragter. Guten Morgen, Herr Inzko!

Valentin Inzko: Grüß Gott und guten Morgen!

Ricke: Die ersten Zahlen gibt es, die politischen Machtverhältnisse scheinen sich wohl erst mal nicht zu ändern. Heißt das, weiter Stagnation?

Inzko: Es darf wohl keine weiteren vier Jahre Stagnation geben, das würde ja bedeuten, dass Bosnien-Herzegowina acht Jahre keine Fortschritte hätte. Ich glaube aber, dass es doch Anzeichen gibt für Änderungen: Die ersten vorläufigen Ergebnisse sprechen von einem guten Abschneiden der SDP, die die stärkste Partei werden könnte. Und auch in der Staatsspitze hat es eine Veränderung gegeben: Haris Silajdžić, der für die muslimischen Bosniaken praktisch 20 Jahre in der Politik tätig war und auch im gegenwärtigen Augenblick Staatspräsidiumsmitglied ist, Haris Silajdžić hat die Wahl verloren, und jetzt dürfte der Sohn eines der Staatsgründers Bosniens dann zum Zug kommen, Herr Izetbegovic.

Ricke: Das sind alles Schritte, aber ist das der große Sprung, auf den Europa gewartet hat?

Inzko: Na, der große Sprung wäre natürlich eine Verfassungsreform, und ich hoffe, dass der neue Mix in den Parlamenten eine Verfassungsreform ermöglichen wird, damit einfach Bosnien und Herzegowina ein normales Land wird.

Ricke: Wenn man sich die Parteiprogramme ansieht, müsste das ja eigentlich klappen: Fast alle haben sich für freie Wirtschaft ausgesprochen, fast alle wollen gegen die Korruption kämpfen, fast alle wollen mehr Europa. Wenn alle für dasselbe sind, dann müsste das doch klappen?

Inzko: Ja, alle sind dafür, alle sind für Europa, aber manchmal klappt es eben bei der Umsetzung ... Aber ich glaube, jetzt ist die Zeit vielleicht reif, auch bei den traditionellen Parteien, dass man einen neuen Anlauf nimmt und sich stärker Richtung Brüssel bewegt.

Ricke: Was müsste denn aus Brüsseler Sicht als Erstes getan werden?

Inzko: Na ja, man müsste also ganz konkret, was die Menschen hier betrifft, die würden sich sehr, sehr freuen auf eine Visumfreiheit, denn während des Kommunismus konnte man frei reisen unter Tito, jetzt leider nicht. Aber diese Dinge sind auf einem guten Weg. Bosnien müsste zur Gänze einmal das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen erfüllen aus Brüsseler Sicht, es müsste mehr gegen Korruption kämpfen, gegen organisierte Kriminalität und mehr europäische Standards übernehmen und dann so einem Weg einschlagen wie die anderen europäischen, osteuropäischen Staaten auch. Und zuletzt hat das ja Kroatien bewiesen, das wahrscheinlich in einem oder zwei Jahren der EU angehören wird.

Ricke: Das heißt aber für Bosnien-Herzegowina, man müsste sich endlich mal zusammenraufen, man müsste gemeinsame Probleme auch gemeinsam angehen. Wird das denn im Land und auch in seinen Teilen überhaupt verstanden?

Inzko: Sie haben recht, so ist es. Man müsste mehr gemeinsame Anstrengungen unternehmen. Das wird in manchen Landesteilen nicht so verstanden, und da bedarf es eines neuen Anlaufs wirklich.

Ricke: Es gibt ja die nationalistischen Töne. Sind die aus Ihrer Erfahrung auch in der Rückschau in diesem Wahlkampf lauter als vorher geworden?

Inzko: Also im muslimisch-kroatischen Teil gab es beinahe keine nationalistischen Töne, die waren völlig abwesend. Zum Teil war hier die Kampagne (Anmerkung der Red.: Wort schwer verständlich im Hörprotokoll) sogar langweilig. Und die Leute konnten über die echten Probleme besser nachdenken, weil eben die nationalen Probleme nicht so sehr im Vordergrund standen. In der Republika Srpska, bei den Serben, war vor allem die Frage der Republika Srpska, also dieser Entität, im Vordergrund, und vor allem ein Slogan wurde am häufigsten benützt: Republika Srpska auf ewige Zeiten!

Ricke: Entität, also politische Einheit, davon gibt es zwei: die Bosniakisch-Kroatische Föderation, die Republika Srpska. Könnte man die beiden nicht zu einem Wettbewerb einladen, zu sagen, wer schneller und wer stabiler ist, der darf einfach als Erster in die Europäische Union? Wäre das nicht ein Ansporn, eine Herausforderung?

Inzko: Ja, nicht ganz so. Es gibt glaube ich keine Einzellösungen. Bosnien kann nur als Gesamtstaat in die Europäische Union. Aber das ist einer meiner Lieblingsgedanken: der Wettbewerb zwischen den beiden Entitäten. Wer ist besser auf dem europäischen Weg, oder auch die Spitäler, wer hat eine korrektere Polizei, wer hat die besseren Universitäten, wer hat die besseren Straßen? Das wäre wohl das Schönste, was passieren könnte jetzt in Bosnien-Herzegowina die nächsten vier Jahre, ein Wettbewerb im Positiven zwischen den beiden Entitäten und zwischen den drei Völkern.

Ricke: Lassen die sich darauf ein?

Inzko: Ja, wir werden sie dazu animieren, die haben ja auch ein bisschen Stolz, und so wie es eine negative Epidemie gibt im medizinischen Bereich oder anderswo, so wollen wir hier eine positive Epidemie schaffen, und dazu gehört sicher dieser Wettbewerb, den Sie erwähnt haben.

Ricke: Schauen wir noch ganz kurz auf die EUFOR-Soldaten, die nach wie vor im Lande stehen, 15 Jahre nach dem Krieg. Kann man in dem Zusammenhang der europäischen Perspektive vielleicht auch mal eine Perspektive für den abschließenden Truppenabzug zeichnen?

Inzko: Oh ja, ich habe gerade gestern die Soldaten besucht, und zwar die deutschen Soldaten, die haben die deutsche Einheit gefeiert, ich gratuliere Ihnen auch ganz herzlich. Das ist ja auch ein ganz großes Beispiel, dass es geht, gemeinsam etwas zu tun. Die haben natürlich auch das Oktoberfest gefeiert, und das sind aber nur mehr etwas weniger als 2000 Soldaten in Bosnien. Früher hatten wir ja über 60.000. Also Sie sehen auch den Trend: Es wird immer weniger, und auch die Deutschen werden weiter reduzieren. Aber eine Kerntruppe soll solange bleiben, solange es den Hohen Repräsentanten gibt, und dann wird man später sehen, welche Aufgaben diese Truppe haben wird. Wahrscheinlich werden es Ausbildungsaufgaben sein.

Ricke: Valentin Inzko, der Hohe Repräsentant in Bosnien-Herzegowina. Vielen Dank, Herr Inzko!

Inzko: Ihnen auch, wiederhören!