Interview mit Historiker Klaus Schatz

Die Jesuiten und die Indios - eine Erfolgsgeschichte?

Papst Franziskus wird in Paraguay von Tänzerinnen begrüßt.
Eine Woche dauerte die Südamerika-Reise des Papstes im Juli 2015, die ihn unter anderem nach Paraguay brachte. © picture alliance / dpa / Andrés Cristaldo
Moderation: Philipp Gessler · 26.07.2015
Papst Franziskus hat bei seinem Besuch in Paraguay die Verdienste des Jesuitenordens in Südamerika gewürdigt. Die Jesuiten richteten im 17. Jahrhundert selbstverwaltete Dörfer zum Schutz der Indios vor Sklavenhändlern ein. Manche sprechen von einer Vorform des Sozialismus.
Philipp Gessler: Papst Franziskus hat zum Abschluss seiner Lateinamerikareise kürzlich die sogenannten Jesuitenreduktionen oder -Missionen auf seinem Heimatkontinent gelobt. Diese Kolchose-ähnlichen Dörfer in den Indianergebieten, die es im 17. und 18. Jahrhundert gab, haben Sozialreformer und Sozialisten jahrhundertelang beschäftigt: Haben die Jesuiten hier etwa ein ideale, eine gerechte Gesellschaft erschaffen können? War es gar eine Vorform des Sozialismus?
Mit dem Historiker Klaus Schatz, ebenfalls ein Jesuit und ausgezeichneter Kenner der Jesuiten-Reduktionen, habe ich über dieses "Heilige Experiment", wie es früher genannt wurde, gesprochen. Meine erste Frage an den Frankfurter Professor für Kirchengeschichte war, ob denn der Papst mit seiner Aussage recht habe, das in den Jesuitenreduktionen praktizierte Wirtschaftsmodell mit viel Gemeineigentum habe Ausbeutung verhindert.
Klaus Schatz: Ja, das trifft auf die damalige Zeit zweifellos zu. Die Jesuiten setzten hier eine Linie, eine Richtung fort, die vor ihnen von den Dominikanern und auch Franziskanern beschritten worden war. Zu nennen ist besonders der berühmte Dominikanerpater Las Casas, nämlich Kampf gegen die Versklavung der indigenen Bevölkerung in Amerika und für ihre Freiheit. Und schon von Las Casas an wurde die Erfahrung gemacht, einerseits, man findet Resonanz und Gehör beim spanischen König, aber die Möglichkeiten der Zentrale, in diesen weiträumigen Gebieten sich durchzusetzen gegen die örtlichen Grundbesitzer, war äußerst gering. Mehr und mehr hat schon Las Casas selbst und dann die Missionare nach ihm die Erfahrung gemacht, effektiv die Indianer vor Versklavung zu bewahren und vor sonstigen Phänomen – des Kulturschocks, der Ausbeutung, des Niedergangs. Das ging nur, wenn die Missionare selbst die Dinge auch wirtschaftlich und politisch in die Hand nahmen, also eigene Schutzgebiete errichteten.
Familien bekamen Äcker, die aber nicht vererbbar waren
Gessler: Das heißt, dieses Modell ist im Grunde auch aus der Not geboren, kann man das sagen?
Schatz: Zweifellos, zweifellos, muss man sagen. Und die Jesuiten haben das insofern fortgesetzt, als ihre Schutzgebiete hermetisch abgeschlossen gegen alle übrigen Europäer waren, sie unterstanden nur der Krone. Es war zwar kein selbstständiger Staat im Sinne eigener Souveränität, es beruhte auf Konzession durch den spanischen König, aber praktisch hatten die Missionare die ganze Verwaltung dort inne.
Nun ist allerdings eines zu sagen: Die Wirtschaftsform, sehr stark genossenschaftlich ausgerichtet, im strikten Sinne gab es kein Privateigentum. Es gab einerseits das Gemeineigentum, die Äcker im Besitz der Gemeinde, für die Bedürfnisse der Gemeinde, und die Äcker in Familienpacht, die den jungen Ehepaaren bei der Eheschließung gegeben wurden, aber nicht vererbbar waren. Effektiv stellten die Jesuiten fest, dass bei diesen Indianern, denen der Privateigentum an Grund und Boden völlig fremd war – man muss ja bedenken, sie haben früher halb nomadisch gelebt, bis die Äcker ausgelaugt waren – die Vorstellung von Privateigentum, gar vererbbarem Privateigentum an Grund und Boden war völlig fremd. Es funktionierten nur die Dinge, die gemeinsam gemacht wurden.

Was sind Jesuiten-Reduktionen? - Die ersten Vertreter der Jesuiten kamen bereits 1549 nach Südamerika - nur neun Jahre nach Gründung des Ordens. Die Anlagen ihrer ersten sogenannten Reduktionen folgten einem festen Muster. Eine Kirche mit Pfarrhaus, Verwaltungsgebäude und Hauptplatz bildeten das Zentrum. An den drei freien Seiten des Hauptplatzes erstreckten sich die langen Wohnhäuser der Indios. Der Stadtrat wurde einmal pro Jahr gewählt. Dieses System hielt sich bis 1767, bis zur endgültigen Vertreibung der Jesuiten. Kernland der Jesuiten-Reduktionen im 17. und 18. Jahrhundert war Paraguay. (KNA)

Gessler: Das heißt, die Jesuiten haben im Grunde das auch aufgegriffen, was in diesen Stämmen vorher zu finden war an Gedankengut.
Schatz: Genau. Also das heißt, diese genossenschaftliche Wirtschaftsform, so sagt man besser – Kommunismus und so weiter ist irreführend –, die war ein Anpassungsphänomen. Es war eine kulturelle beziehungsweise soziale Anpassung an die Sozial- und Wirtschaftsformen der Indianer.
Gessler: Nun waren aber gerade die frühen Sozialisten ja fasziniert von diesen Reduktionen. Sie sahen darin ja Vorformen im Grunde eines Sozialismus beziehungsweise eines Sozialismus, der mal geklappt hat, oder?
Schatz: Ja, das stimmt, und sie haben sogar Vorläufer in manchen Jesuiten gehabt, und zwar vor allem in europäischen Jesuiten des 18. Jahrhunderts, die der Versuchung der Idealisierung nicht widerstanden und etwa schrieben, man hatte bei diesen neu Bekehrten den Versuch gemacht, die Zustände in der Jerusalemer Urgemeinde wiederherzustellen, wo niemand etwas für sich besaß, allen alles gemeinsam war, und der Versuch ist geglückt.
Also die haben schon diese Verhältnisse idealisiert, obwohl das ursprüngliche ja einfach pragmatische Anpassung an die Gegebenheiten eines Volkes war, das Eigentum in dem Sinne nicht kannte. Und dann kam natürlich die Idealisierung zunächst mal durch manche europäische Aufklärer. Manche Aufklärer, so wie Voltaire in der ersten Zeit, waren zwar im Banne der geläufigen Vorurteile der Gebildeten gegen die Reduktionen, Versklavung der Indios und so weiter, aber manche wie Montesquieu haben dann gerade in den Reduktionen eine geglückte Verbindung von Religion und Menschlichkeit gesehen. Und das ist sicher von manchen Sozialisten fortgesetzt worden. Aber es ist zu sagen, diese genossenschaftliche Wirtschaftsform wurde von den Jesuiten nicht praktiziert sozusagen als Ideal oder gar, um dem zeitgenössischen Europa einen Spiegel vorzuhalten, sondern einfach als missionarische Anpassung: So funktioniert das bei diesen Menschen und so geht es am besten und das hat da keinen Zweck, unsere entwickelten Wirtschaftsformen denen zu oktroyieren.
Wirtschaftliche Sicherheit, mehr Nahrung, Erleichterungen bei der Arbeit
Gessler: Jetzt ist klar, dass die Jesuiten natürlich in erster Linie den Schutz der Indios im Sinn hatte und auch ihre Missionierung, aber welches Interesse hatten die Indios, in diesen Reduktionen zu leben?
Schatz: Ja, das ist gar nicht so einfach zu beantworten. Tatsache ist wohl, dass die Jesuiten ohne Zwang anfangs bei vielen Stämmen ankamen und die bereit waren, sich der Führung der Jesuiten zu unterstellen. Was waren die Gründe? In Einzelfällen vielleicht Bedrohung durch portugiesische Sklavenjäger oder die Aussicht, wenigstens so nicht in die Sklaverei der Spanier zu fallen, in Einzelfällen Schutz gegen fremde Indianerstämme, aber insgesamt wohl auch die Feststellung, dass das Leben in den Reduktionen faszinierte, und zwar die größere wirtschaftliche Sicherheit, die es bot, die größere Menge an Nahrungsmitteln, die Erleichterung der Arbeit, zum Beispiel durch die eisernen Äxte statt der bisherigen Steinwerkzeuge. Das war eine Menge von Dingen, die damals die Führer der Indios faszinierten, sodass sie in den Reduktionen eine Verbesserung des Lebensniveaus sahen.
Es gab natürlich durchaus auch Widerstände. Die Reduktionen bedeuten den Übergang in eine fest geregelte Ordnung, nicht mehr frei umherstreifen, sich bestimmten Regeln unterziehen, und manches wurde durchaus auch als Entfremdung aufgefasst, aber es war eben doch so, dass vielfach das Leben in den Reduktionen faszinierte. Insgesamt muss man natürlich sagen, der Vorteil war ein Leben in Sicherheit, gerade auch für die Alten und Kranken. Und das muss man jetzt auch bedenken: Die Feste, die die Jesuiten veranstalteten, mit der Buntheit der Prozession in der damaligen Form des Barock-Katholizismus, das war auch etwas, was insgesamt faszinierte und was sicher die Akzeptanz des Lebens in den Reduktionen begründete.
Gessler: Aber so einen richtigen Austausch, wie wir das heute ja so gerne haben, einen Austausch auf Augenhöhe, sagen wir mal, gab es ja nicht. Also die wenigen Jesuiten, die jeweils dann den Reduktionen vorstanden, waren tatsächlich die Führer, könnte man sagen, und deren Wort war am Ende entscheidend, oder?
"An ein Priestertum der Indianer wurde nie gedacht"
Schatz: Ja, genau das ist das Hauptproblem, was auch heute gesehen wird, der sogenannten Paternalismus der Reduktionen, das heißt, dass im Grunde keine Partnerschaft zustande kam, alles an den Jesuiten hing und ohne sie nichts funktionierte. Jetzt muss man allerdings gleich sagen, wir kennen die Reduktionen ja vor allem in der Form der Guarani-Reduktionen in Paraguay, dort trifft das zweifellos zu. Es gab aber andere weniger bekannte, sicher auch weniger bevölkerte Reduktionsgebiete, wo es etwas anders aussah – das ist jüngst erforscht worden, etwa die Reduktionen der Indianer im Süden Chiles.
Da sah das ganz anders aus, auch dadurch, dass die Jesuiten gewöhnlich nur einmal im Jahr kamen. Da wurden einheimische Katechisten ausgebildet, die selber die Gemeinden leiteten und trugen und die eine ganz andere Initiative entwickelten. Bei vielen anderen ist eben auch dieser Paternalismus ausgeprägt.
Die Frage ist natürlich: War der vermeidbar? Persönlich bin ich der Meinung, in den Anfangsstadien war eine solche paternalistische Relation zwischen Jesuiten und Indianern unvermeidlich, aber die Guarani-Reduktionen im sogenannten Paraguay haben ja 150 Jahre existiert. Es ist am Ende versäumt worden, diese Reduktionen zu einer selbstständigeren Form der Entwicklung zu bringen. An ein Priestertum, etwa die Indianer zum Priestertum zu führen, wurde nie dran gedacht, aber auch nicht wirklich eine politische Elite zu schaffen oder über die Elementarschulen mit Lesen und Schreiben, die es seit den Anfängen gab, irgendwie so etwas wie ein höheres Schulwesen auszubauen. Das sind Dinge, die sicher nicht am Anfang möglich waren, aber doch vielleicht nach 100, 120 Jahren, und die versäumt worden sind.
Gessler: Als dann die Reduktionen auf Geheiß zunächst der portugiesischen und dann der spanischen Krone aufgelöst wurden, haben sich ja viele Indios dagegen gewehrt, auch mit Gewalt.
Schatz: Ja.
Gessler: Heißt das nicht, dass sie insgesamt diese Lebensform als gut für sich begriffen haben?
Die Äcker der Gemeinde, genannt "Eigentum Gottes", waren der eigentliche Reichtum
Schatz: Zweifellos. Also worauf Sie anspielen, ist der Paraguay-Krieg der Jahre 1754 bis 56. Aufgrund des Madrider Vertrags vom 1750 mussten sieben Reduktionen, die im heutigen Brasilien in Rio Grande do Sul existierten, geräumt werden, weil dieses Gebiet an Portugal kam, und zwar zwischen Saat und Ernte – das hätte Hunger bedeutet. Und die Indianer wehrten sich dagegen und machten einen Aufstand, und gerade da gibt es Zeugnisse von den Indianern, das ist das Land, das Gott uns gegeben hat und das wir bebauen und das wir nicht aufgeben wollen.
Also da gibt es zweifellos Zeugnisse der Identifikation der Indianer mit den Reduktionen, obwohl die Jesuiten, die versuchten, vor Gewalt und vor Aufstand gegen die Portugiesen, was keinen Zweck hatte, abzuhalten. Das ist zweifellos der Fall. Andererseits muss man jetzt bedenken, das war noch nicht das Ende der Reduktionen überhaupt, es war sogar so: In den folgenden Jahren fanden die Portugiesen in diesen Gebieten nicht das, was sie gesucht hatten, nämlich sagenhafte Goldschätze und so weiter, und gaben dieses Gebiet wieder auf und den Spaniern zurück, und in dieses Gebiet konnten die Indianer wieder zurückkehren.
Das Ende kam nicht abrupt, sondern es war so: Die Jesuiten wurden 1767 aus Spanien vertrieben, aus Gründen, die nichts mit den Reduktionen zu tun hatten, sondern das waren europäische Entwicklungen. Die spanischen Behörden, zumindest die in Südamerika, wollten die Reduktionen nicht vernichten, sie dachten, das ist an sich eine gute Sache, nur die Jesuiten haben das vielleicht etwas zu hinterwäldlerisch verwaltet, haben die Indianer in Rückständigkeit gehalten, und das wollen wir jetzt modernisieren.
Immerhin wurde den Jesuiten noch ein Jahr Atempause gegeben, sie mussten erst im folgenden Jahr die Reduktionen verlassen, und dann wurden die Reduktionen durch Franziskaner geistlich verwaltet und durch spanische Beamte in weltlicher Beziehung. Und das führte den allmählichen Niedergang herbei. Denn der eigentliche Reichtum der Reduktionen bestand in dem sogenannten "Eigentum Gottes", das heißt, das waren die Äcker, die Güter, die für die Gemeinde bestimmt waren, die nicht in Familienpacht waren, darin bestand der eigentliche Reichtum der Reduktionen. Die wurden jetzt von spanischen Beamten verwaltet, und die wirtschafteten weitgehend in die eigene Tasche. Es kam zu einem langsamen, jahrzehntelangen Niedergang der Reduktionen, der erst endete, als 1848 im damaligen Paraguay die Reduktionen aufhörten, eine selbstständige Einheit zu sein.
Gessler: Hat denn dann eigentlich Franziskus recht, um vielleicht auch wieder zum Ausgangspunkt zu kommen, dass tatsächlich in diesen Jesuitenreduktionen ein gewisses Wirtschaftsmodell aufscheint, was attraktiv sein könnte noch heute?
Schatz: Also sicher, was die Reduktionen auch für heute bedeuten, sind zwei Dinge, da würde ich dem Papst in jedem Fall recht geben: erstens, dass Einsatz für den Glauben, Verkündigung des Glaubens engstens verbunden ist mit Sorge für Gerechtigkeit, Befreiung von Versklavung, und zweitens mit Respekt vor den Kulturen und Überlieferungen der betreffenden Völker. Darin sind die Reduktionen Vorbild, aber ich würde sagen, in den konkreten Strukturen sind sie dermaßen der frühen Neuzeit und den sozialen und politischen Verhältnissen der Vormoderne verhaftet, dass man da nicht ohne Weiteres sie als Modell übertragen kann.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen
Mehr zum Thema