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Hideo Yokoyama: "64"
Tiefenscharfes Porträt der japanischen Gesellschaft

Hideo Yokoyamas neues Buch ist ein Thriller, der die Grenzen des Genres sprengt: In "64" inszeniert Yokoyama einen ungelösten Entführungsfall als eine Langzeitstudie in Sachen Menschenbeobachtung. Das Ergebnis seiner zehnjährigen Arbeit: ein Porträt der japanischen Gesellschaft.

Von Peter Henning | 09.04.2018
    Das Buchcover von Hideo Yokoyama: "64" und Kirschblüten im Hintergrund
    In seinem Erfolgsroman "64" zeigt Hideo Yokoyama die weitverzweigte Mechanik des Tokioter Polizeiapparats als Laboratorium faszinierender zwischenmenschlicher Reibungsprozesse (Buchcover: Atrium Verlag / Hintergrund: picture alliance / zb)
    64 - zunächst nicht mehr als eine scheinbar x-beliebige Zahl. In Bezug auf den soeben auf Deutsch erschienenen und ebenso betitelten Riesenroman des 1957 in Tokio geborenen Japaners Hideo Yokoyama aber kommt ihr gleich in zweierlei Hinsicht eine besondere Bedeutung zu: Zum einen bezeichnet sie das 64. Jahr der sogenannten "Showa-Zeit" - genauer das Jahr 1989, in welchem der japanische Kaiser Hirohito starb, nachdem er mehr als ein halbes Jahrhundert das Land führte.
    Zum anderen steht die Zahl 64 für einen unter dieser Ziffer in den Akten der Tokioter Polizei festgehaltenen ungelösten Entführungsfall, um den die geschilderten Ereignisse kreisen. Denn nun, vierzehn Jahre später, gewinnt der Fall noch einmal Aufmerksamkeit: Es wird bekannt, dass der Generalinspekteur der Polizei den Vater der seinerzeit im Rahmen einer Entführung getöteten Shoko besuchen will, um medienwirksam mit ihm zu trauern. Doch der hat den Tod seiner Tochter nie verwunden und verweigert den Besuch.
    Systematische Vertuschung eines Fehlers
    Man beauftragt den Pressedirektor des Polizeipräsidiums in der Präfektur D, Mikami, den Mann umzustimmen. Gewissenhaft arbeitet Mikami sich in den alten Fall ein - und stößt dabei auf eine Reihe ebenso mysteriöser wie brisanter Ungereimtheiten. Von einem sogenannten "Koda"-Memo ist in der Fall-Akte die Rede: geheimen Notizen eines seinerzeit in die Ermittlungen verstrickten gleichnamigen Beamten, der inzwischen bloß noch schweigt. Furchtlos und gegen alle Warnungen einst mit dem Entführungsfall betrauter Kollegen rekonstruiert Mikami das Vorgehen der Polizei mit einem für ihn erschütternden Ergebnis:
    "Folgendes weiß ich: Ein siebenjähriges Mädchen war entführt worden und auf tragische Weise zu Tode gekommen. Das Koda-Memo enthält Einzelheiten über einen Fehler, den die Vor-Ort-Einheit damals begangen hat, einen schweren Fehler. Die Folge war eine systematische Vertuschung. Inszeniert vom Präsidium. Und deshalb ist der Maulkorberlass immer noch in Kraft. Das Kriminaluntersuchungsamt, im Buch kurz KUA genannt, wird sämtliche Spuren des Memos verwischen."
    Doch damit nicht genug: Mikamis eigene Tochter Ayumi ist seit drei Wochen verschwunden - und zunächst deutet alles auf einen ähnlichen Entführungsfall hin. Hin- und hergerissen zwischen seiner Pressearbeit, seinen Versuchen, Licht ins Dunkel des Falles "64" zu bringen und dem Bangen um das Leben seiner Tochter, reibt Mikami sich mehr und mehr auf.
    Mehr raumgreifendes Gesellschaftspanorama als klassischer Polizeiroman
    Das alles schildert Hideo Yokoyama in der Manier des souveränen Epikers, der sein Buch als eine das Genre sprengende Langzeitstudie in Sachen Menschenbeobachtung inszeniert. Zehn Jahre hat der Japaner an seinem Riesenroman geschrieben. Und er erinnert eher an die großen raumgreifenden Gesellschaftspanoramen, wie sie über die Jahre US-Autoren wie Jonathan Franzen, Nathan Hill oder Garth Risk Hallberg vorlegten, denn an den klassischen, knapp gefassten Polizei-Roman. Zudem steht hier nicht der gängige Ermittler im Zentrum, der auf eigene Faust Geheimnisse lüftet, Täter entlarvt und der Gerechtigkeit zu ihrem Recht zu helfen versucht, sondern einer, der sich als Pressedirektor an die bürokratischen Regeln einer streng hierarchisch durchorganisierten Behörde zu halten hat.
    "Normalerweise ist ein Detektiv die Hauptfigur in einem Thriller und das Verbrechen, das er aufklären muss, bildet den Hauptgegenstand der Erzählung. Doch mich hat im Hinblick auf Polizei-Pressedirektor Mikami - die Hauptfigur meines Buches - etwas anderes interessiert. Um seine Gefühle und Leidenschaften zu beschreiben und um zu zeigen, wie er und der Polizeiapparat, für den er arbeitet, in Wechselwirkung ticken, musste ich das komplette System porträtieren. Mein Ansatz war also ein völlig anderer."
    Glaube an die Integrität erschüttert
    Mit diesen Worten charakterisierte Yokoyama selbst einmal das Wesen seines Protagonisten.
    "Welche Defizite er auch immer hatte, er war ein Mann, der sich schon seit jungen Jahren unbeirrt in der Welt kriminalpolizeilicher Ermittlungen bewegte. Sein Zugehörigkeitsgefühl war eisern, durch keine Beförderung zu erschüttern."
    Doch Mikamis Solidarität wird im Zuge seiner bald verdeckt vorangetriebenen Ermittlungen auf immer neue harte Proben gestellt. Und schon bald ist sein Glaube an die Integrität seiner Behörde erschüttert. Obendrein kommt die Meldung einer aktuellen, dritten und von ihrer Dramaturgie her stark an die Ereignisse von vor 14 Jahren erinnernden Entführung herein. So geht Yokoyamas Roman nach weit ausholenden 700 Seiten seinem ebenso überraschenden wie irrwitzigen Finale entgegen:
    "Wir haben eine Entführung."
    "Eine Entführung?"
    "Ja, erpresserischer Menschenraub in Genbu. Das Mädchen ist 17."
    Mikami war es, als griffe eine kalte Hand nach ihm. Die Parallelen zu 64 waren unerträglich: morgen Mittag, zwanzig Millionen Yen, Sato, gebrauchte Scheine, Marukoshi, der größte Koffer, kommen Sie allein. Selbst dass der Entführer beim ersten Anruf keinen Namen nannte.
    Wartete etwas völlig anderes auf sie, etwas woran bisher keiner von ihnen gedacht hatte, ein noch viel raffinierterer Plan als hinter 64?
    Mikamis Schritt war schwer, als er durch die Dunkelheit zurückging."
    Mitreißendes Stück zeitgenössischer Kriminalliteratur
    Hideo Yokoyma vermag es glänzend, die Spannung seines 760-seitigen Epos prozesshaft zu steigern. Und immer wieder zeigt er die diffizile, weitverzweigte Mechanik des Tokioter Polizeiapparats als Laboratorium faszinierender zwischenmenschlicher Reibungsprozesse. Das Resultat ist ein mitreißendes Stück zeitgenössischer Kriminalliteratur, das demonstriert, wie spannend eine bewusst auf alle gängigen Mittel künstlicher Spannungserzeugung verzichtende große Kriminalerzählung sein kann. Zudem gelingt dem Autor, ein tiefenscharfes Porträt der heutigen in ihren Riten, Zwängen und Idealen gefangenen japanischen Gesellschaft. Vor allem aber führt Yokoyama in Bildern von stupender Klarheit und Schärfe vor, welchen Preis es den Einzelnen auf seiner Suche nach der Wahrheit mitunter kosten kann, dabei den eigenen Idealen treu zu bleiben. Gegen alle inneren und äußeren Widerstände.
    Hideo Yokoyama, "64". Thriller. Aus dem Englischen von Sabine Roth und Nikolaus Stingl. Atrium Verlag, Zürich 2018. 768 Seiten. 28 Euro.