Interaktives Kunstprojekt zum Halle-Attentat

Topografie eines Anschlags

09:15 Minuten
Kartenansicht aus der Vogelperspektive der Innenstadt von Halle.
Wo liegen die Spuren des Terroranschlags von Halle - wie hat alles begonnen? Das zeichnet ein Kunstprojekt mit einer interaktiven Zeitkarte nach. © "Global White Supremacist Terror: Halle“, gehosted by nsu-watch,
Lou Salomon und Rachel Spicker im Gespräch mit Max Oppel · 15.09.2020
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Die Künstlerin Lou Salomon hat den Anschlag auf die Synagoge in Halle unmittelbar miterlebt. Gemeinsam mit anderen Kunstschaffenden und Wissenschaftlern hat sie eine interaktive Zeitkarte kreiert, die die lange Vorgeschichte des Attentats offenlegt.
Max Oppel: Heute ist der zwölfte Tag im Prozess gegen den rechtsextremen Attentäter von Halle. Angehörige der Toten und Zeugen der Angriffe und des Anschlags auf die Synagoge werden gehört. Aber es gibt auch außerhalb des Gerichtssaals eine genaue Aufarbeitung: Eine jetzt online gestellte Webseite zeichnet den Weg des Attentäters durch Halle nach. Was hat er vorher getan, wann den Mietwagen geholt, wann war er vor der Synagoge? Zu welchen anderen rechtsextremen Anschlägen hat er sich im Netz informiert? Das Ganze ist auf einem Zeitstrahl und auf einer Karte nachvollziehbar.
Erstellt hat diese Seite ein Kollektiv aus Künstlerinnen und Künstlern, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Zwei von Ihnen, die Sozialwissenschaftlerin Rachel Spicker und die Künstlerin Lou Salomon, sind uns jetzt zugeschaltet:
Frau Spicker, was wollen Sie mit dieser Webseite zeigen und erreichen?
Rachel Spicker: Wir haben ja beim Halle-Anschlag den Fall, dass es sich nicht nur um den Tatort der Synagoge handelt, der so häufig in den Medien präsent ist und auch viel thematisiert wird, sondern wir haben zusätzlich noch die Morde natürlich an Jana Lange und an Kevin Schwarze, wir haben aber auch den Tatort des Kiezdöners, wo der Attentäter eben, nachdem er nicht in die Synagoge eindringen konnte, hingefahren ist. Er hat halt seinen Plan geändert und versucht, dort eben gezielt Menschen zu töten. Und unterwegs und auch auf der Flucht hat er immer wieder versucht, Menschen zu erschießen oder auch anzuschießen. Und er hat auch etliche verletzt.
Dieser Zeitstrahl oder auch diese interaktive Plattform, die wir da zusammen erstellt haben, soll so ein bisschen den Zugang zu dieser komplexen Tat erleichtern, die an diesem Tag passiert ist, aber auch eben verschiedene Perspektiven und Stimmen von Überlebenden und Betroffenen zugänglich machen, die halt bis heute unter diesem Anschlag leider, aber auch ihre unterschiedlichen Formen und Wege finden, mit der Tat umzugehen.
Luftaufnahme der jüdische Synagoge in Halle Saale
Die jüdische Synagoge in Halle wurde im Oktober 2019 Zielscheibe eines Anschlags. .© imago images / Steffen Schellhorn
Oppel: Dass man also ein besseres Bild von der Gesamttat und dem Umfeld bekommen kann. Nun lautet die Adresse halle.nsu-watch.info, da steckt natürlich der NSU mit drin, der Nationalsozialistische Untergrund, diese Terrorzelle, die zehn Menschen ermordet hat. Wie hängt das zusammen?

Den Terror sichtbar machen

Oppel: Das zusammenhängende Element sind natürlich die ideologischen Verknüpfungen, die bei der Tat in Halle und auch beim NSU eine Rolle spielten. Der NSU ist für seinen Rassismus, für seine rassistischen Morde bekannt, aber eben auch für seinen Antisemitismus. Es gab mehrere, verschiedene antisemitisch konnotierte Taten, die der NSU eben auch vor den Morden schon begangen hat. Er hat auch zum Beispiel die Synagoge in der Berliner Rykestraße ausgeforscht. Und hier bei Halle sehen wir, dass Rassismus und Antisemitismus, aber auch andere ideologische Elemente wie Antifeminismus zusammenwirken. Und darauf wollen wir uns beziehen und das halt in einen Kontext stellen und aufzeigen, dass es schon seit Jahrzehnten im wiedervereinigten Deutschland, aber auch schon davor eine Kontinuität von rechter und rechtsterroristischer Gewalt gibt.
Lou Solomon, Sie sind in diesen Tagen Zeugin und Nebenklägerin im Prozess gegen den Attentäter. Hat die Mitarbeit an dieser Webseite Ihre Sicht auf seine Taten verändert?
Solomon: Die Idee für die Website kam uns schon recht früh nach der Tat. Als Überlebende einer solchen Tat stellen sich dir nämlich sofort zwei Fragen: Wie konnte das passieren? Und: Wie kann man verhindern, dass so etwas noch einmal passiert? Für mich ist es ungeheuer wichtig zu verstehen, was der Hintergrund dieser Tat ist, wie es dazu kam. Nicht nur für mich, sondern für die Gesellschaft. Darum geht es bei diesem Projekt in erster Linie, dass die Gesellschaft versteht, in welchem Kontext das geschah und geschehen konnte.
Das Ganze wird visuell nachvollziehbar, man kann lernen, was das für ein Milieu ist, wie diese Netzwerke arbeiten. Und man kann vielleicht auch beurteilen, ob die Gesellschaft genug tut, um solche Taten künftig zu verhindern. Das Internet hat keine Grenzen – und wir müssen verstehen, dass das ein globales Problem ist. In den USA, in Christchurch, in Oslo und hier in Deutschland. Und das müssen wir sichtbar machen als globale Gemeinschaft – und das können wir auch. Darum geht es.

Die Kontrolle über das Erlebte

Oppel: Sie waren ja am jenen 9. Oktober 2019 selbst in der Synagoge, Sie wissen, dass der Mann vermutlich auch Sie töten wollte. War das schwierig dann trotzdem für Sie, unter diesen Vorzeichen an einer grafischen Darstellung, an einer Webseite mitzuarbeiten?
Solomon: Für mich ist es am wichtigsten, die Kontrolle zu haben, über das, was ich erlebt habe, über meine eigene Geschichte. Außerdem sollen die Menschen verstehen, dass die Synagoge nicht der einzige Schauplatz der Attentate war. Es gibt 43 Nebenkläger in diesem Prozess. So viele Menschen sind von dieser rassistischen Attacke betroffen – und das muss erkannt und benannt werden. Der Kontext ist so extrem wichtig, sonst kannst du nichts tun! Es wäre enorm gefährlich, das Netzwerk nicht offenzulegen, das dahinter steckt. Dieser Mann hat gesagt, er habe allein gehandelt an dem Tag. Aber er hat das nicht allein geistig vorbereitet.
Unsere Regierung muss begreifen, wie das alles miteinander zusammenhängt. Das Ganze ist Teil einer Copy-Paste-Kultur, da werden Taten kopiert, einer schaut vom anderen ab. Und dasselbe Muster wird wieder und wieder angewandt: Das ist die Gamification des Terrors. All die Plattformen im Netz spielen mit, Facebook, Twitter, Telegram, aber sie werden nicht zur Verantwortung gezogen für den Hass, den sie zu verbreiten helfen. Und das müssen wir auch hinterfragen, warum müssen sie sich nicht dafür verantworten?

Der Mut der Zeuginnen und Zeugen

Oppel: Frau Spicker und Frau Solomon, Sie beide sind gerade in Magdeburg, wo der Prozess gegen den Täter läuft, bis Ende des Monats gibt es da noch Zeugenaussagen. Wie geht es Ihnen damit, jetzt diesem Menschen ins Gesicht zu sehen, dessen Taten Sie eben gerade auch wieder aufbereitet haben mit der Webseite?
Spicker: Ich bin immer wieder beeindruckt von den Überlebenden und Zeuginnen, die hier sprechen, die den Mut aufbringen, sich quasi dem Attentäter zu stellen und nicht nur erzählen, was ihnen wiederfahren ist oder wie sie das erlebt haben, sondern auch die Tat in einen gesellschaftlichen Kontext setzen, noch mal die politischen Kontexte und Verbindungen berücksichtigten, die Frau Solomon auch gerade genannt hat. Was wir sehen können, ist, dass die Presse und die öffentliche Aufmerksamkeit sehr stark auf den Täter fokussiert ist. Das haben wir bei rechtsterroristischen Taten oder auch bei rechtsextremen Gewalttaten sehr häufig. Und das ist halt eben die Norm oder die Regel, dass das so passiert.
Was uns noch mal eher interessiert, ist, wie haben die Betroffenen und die Überlebenden diese Tat erlebt, aber auch: Wie geht es ihnen heute, warum sind sie Nebenklägerinnen geworden, was möchten sie zu der Aufklärung beitragen, wie sehen sie ihre Rolle darin? Und das ist auch wichtig für uns, das in Perspektive zu rücken und auch zu fokussieren. Weil darum geht es auch in diesem Prozess, es geht darum, dass sie einen Teil zur Aufklärung beitragen, dass sie gestärkt aus dem Prozess hervorgehen und ihre Analysen und Perspektiven in den Prozess und in die Aufklärung mit einbringen können.
Solomon: Für mich ist es eher wichtig zu sehen, wie das Gericht reagiert als der Attentäter. Seine Reaktion ist vorhersehbar. Er kommt aus einer Welt, in der so eine Tat lustig ist, und er zeigt auch keine echte Reue. Es ist wichtig, dass man in diesem Gerichtssaal versteht, dass er kein Einzelfall ist, er steht nicht allein da mit diesem rassistischen Denken. Einen Weg, dieses Denken, dieses System zu bekämpfen, den müssen wir finden. Deshalb bin ich auch Nebenklägerin. Wir haben eine gesellschaftliche Verantwortung, das System zur Verantwortung zu ziehen, das jemanden wie ihn existieren lässt – und das Taten wie seine ermöglicht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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