Hilfsprojekt "In Via" für Zwangsprostituierte

18 Stunden auf dem Strich

07:28 Minuten
Ein illuminiertes Fenster im Rotlichtviertel in Berlin.
Frauen in Zwangsprostitution wissen oft nicht, wo sie Hilfe finden. Die katholische Beratungsstelle "In Via" engagiert sich für sie. © imago/ Steinach
Von Josefine Janert · 26.01.2020
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Verschleppt, belogen, ausgebeutet: Zwangsprostitution bleibt trotz des deutschen Gesetzes zum Schutz von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern ein großes Problem. Dagegen engagiert sich eine katholische Initiative in Berlin.
Eine ruhige Straße im Berliner Bezirk Charlottenburg. Hier befinden sich die Büros von "In Via", was "auf dem Weg" bedeutet. Hinter diesem Namen verbirgt sich ein katholischer Verband, der im Erzbistum Berlin unter anderem Mädchen und Frauen in Not unterstützt.
In der zweiten Etage eines Altbaus ist eine Beratungsstelle für Opfer von Zwangsprostitution untergebracht. Vier Sozialarbeiterinnen sind hier angestellt. Frauen, die einen Termin haben, werden von einer Mitarbeiterin in sachliche Büroräume geleitet, wo man sich viel Zeit nimmt für ein Gespräch. Sie bekommen unter anderem Rat bei psychosozialen Problemen.

Hilfe für Frauen aller Konfessionen

Eine der Beraterinnen ist Barbara Eritt, eine Frau mit polnischen Wurzeln. "Manchmal hören wir so was: 'Ja, ich bin nicht religiös.' Oder: 'Ich bin Moslem, du bist christlich. Darf ich?'", erzählt Eritt. "Ja, und dann sagen wir eben: 'Wir sind offen für alle Konfessionen.'"
Laut der Lehre der katholischen Kirche ist es "immer schwer sündhaft, sich der Prostitution hinzugeben". So steht es im Katechismus. Papst Franziskus hat Prostitution als "widerliches Laster" und "Ausdruck einer kranken Gesellschaft" gegeißelt. Doch sein Zorn gilt in erster Linie den Freiern. Sexarbeiterinnen nennt er "gekreuzigte Frauen" und fordert, dass die Gesellschaft ihren Schrei hört.
Der Papst blendet aus, dass manche Frauen sich frei für diesen Beruf entscheiden und nicht darunter leiden. Das ist wohl auch die Ausnahme. Die Mitarbeiterinnen von "In Via" treffen jedenfalls meist auf Ratsuchende in einer verzweifelten Situation.

Abhängigkeit oft über Jahrzehnte

Barbara Eritt erinnert sich: "Ich hab das eine Mädchen, das mit 15 reingeraten ist in die Situation. Dann hab ich sie gefragt, 'sag mal, wusstest du denn nicht, dass du da raus kannst? Dass es Beratungsstellen gibt?' Die hat sogar Schiss gehabt, zur Polizei zu gehen. Dann hat sie mir gesagt: 'Du wirst lachen: nein. Nein, ich hatte gar keine Ahnung über Hilfe. Ich war doch selber schuld!' Die verteufelte Situation: Mir geschieht hier Unrecht, aber ich bin selber schuld, das vereinsamt die Menschen wahnsinnig."
Loverboy-Methode heißt die Masche, mit der Männer vor allem ganz junge Frauen ansprechen. Erst umwerben sie sie und machen ihnen Geschenke. Wenn sich die Frauen dann in sie verliebt haben, fordern die Männer, dass sie für sie auf den Strich gehen.
"Die Liebe, die die Mädchen grade dem Loverboy gegenüber empfinden, ist sehr, sehr extrem. Und die haben eine wahnsinnige Abhängigkeit, die zum Teil über Jahre bestehen kann", berichtet Streetworkerin Sarah Michel. "Also, eine Klientin beispielsweise ist mittlerweile seit sechs Jahren vom Loverboy getrennt. Und hat mir jetzt trotzdem gesagt: Wenn er bei ihr vor der Tür stehen würde und würd ihr sagen: 'Das war damals ein Missverständnis, ich liebe dich', würd sie sofort wieder mitgehen."

In jeder Hinsicht fremdbestimmt

Laut Bundeskriminalamt schloss die Polizei 2018 im Bereich Zwangsprostitution 356 Ermittlungsverfahren ab, neun Prozent mehr als im Vorjahr. Doch etliche Ermittlungen laufen ins Leere – unter anderem, weil viele ausländische Frauen gar kein Interesse daran haben, ausführlich auf die Fragen der Polizei zu antworten. Sie möchten lieber schnell in ihre Heimat zurück.
Deutschland, Bulgarien und Rumänien – aus diesen drei Ländern stammen sowohl die meisten Opfer als auch die meisten Tatverdächtigen. Frauen aus den Balkan-Staaten werden unter anderem mit dem Versprechen nach Deutschland gelockt, dass sie hier in einem Restaurant oder Hotel arbeiten können. Selbst wenn sie sich für die Prostitution entschieden haben, finden sich viele in Arbeitsbedingungen wieder, die sie nicht selbst bestimmen.
Barbara Eritt schildert die Umstände, denen viele der Frauen ausgesetzt sind: "Sie können nicht darüber entscheiden, welche sexuellen Praktiken sie anbieten. Sie haben überhaupt keinen Überblick darüber, wie viel Geld sie verdienen – und bekommen oft auch wenig Geld. Man nimmt ihnen die Pässe ab. Und, naja, es ist bis zu 18 Stunden am Tag, kann zwölf Stunden sein oder acht – aber jeden Tag. Ich muss auch während der Menstruation arbeiten. Ich muss samstags, sonntags – ich hab überhaupt nicht frei."

Grundversorgung in der Parkbucht

Manche Frauen können nicht einmal über ihren Aufenthaltsort entscheiden. "Wenn Sie jemanden einsperren, da brauchen Sie Leute, die das auch bewachen", sagt Barbara Eritt. "Sie können Menschen auch mit Drohungen zwingen. Sie können Menschen auch vorführen, was es bedeutet, wenn sie weglaufen. Sie können die psychisch im Gefängnis halten."
Sarah Michel arbeitet für "In Via" in Brandenburg. Sie und ihre Kolleginnen suchen Frauen in Bordellen und Terminwohnungen auf und fahren zum Straßenstrich entlang der deutsch-polnischen Grenze. Ob die Frauen, die dort stehen, sich freiwillig prostituieren, oder ob sie es unter Zwang tun, das wissen die "In Via"-Mitarbeiterinnen meist nicht. Bis zu 15 Kilometer fahren sie ins polnische Territorium hinein. Da es in dieser Region sonst kaum Unterstützung für die vielen dort tätigen Sexarbeiterinnen gibt, sind diese besonders dankbar.
"Die Frauen stehen meistens in Parkbuchten", sagt Michel. "Das heißt, wir parken direkt da, wo die Frau ist, da wir dort auch Kondome, Gleitgel, Händedesinfektion verteilen an die Frauen. Und wir reden mit den Frauen."

Kritik am Prostituiertenschutzgesetz

Manche Frauen werden in Deutschland von der Polizei aufgegriffen, die ihnen rät, zu den "In Via"-Mitarbeiterinnen Kontakt aufzunehmen. Diese stellen bei Bedarf Kontakt zu einer Ärztin oder Anwältin her, begleiten Frauen zu Gerichtsverhandlungen und beraten sie, wenn sie aus dem Job aussteigen wollen. Für Frauen, die keinen Anspruch auf Leistungen der Arbeitsagentur haben, ist das allerdings besonders schwierig.
Seit 2017 gilt in Deutschland das Prostituiertenschutzgesetz. Es soll die Kriminalität eindämmen und verpflichtet Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter dazu, ihre Tätigkeit bei den Behörden anzumelden. Barbara Eritt erzählt, dass sie dazu viel Kritik hört, unter anderem aus Datenschutz-Gründen:
"Da sind zum Beispiel die Stimmen von Studentinnen, da sind auch Stimmen von Frauen, die irgendwo arbeiten und sich anmelden sollen, wo der Papa halt im gleichen Amt arbeitet, wo die sich anmelden soll. Oder aber die Freundin von Papa."

"Ratsuchende und keine Sünderinnen"

Die Mitarbeiterinnen von "In Via" versuchen, praktisch zu helfen. Religiöse Themen besprechen sie eher selten. Und doch sagt Barbara Eritt: "Ich weiß, dass viele Frauen in so schlimmen Situationen auf jeden Fall zurück zu der eigenen Religion finden."
Anders als es der Katechismus vorsieht, betrachtet Barbara Eritt die Frauen nicht in erster Linie als Sünderinnen, sondern als Ratsuchende, denen sie zur Seite stehen will. Sie selbst findet bei ihrer schwierigen Arbeit Halt in ihrem Glauben.
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