Intellektuelles Schweifen

25.08.2011
Der französische Schriftsteller Paul Valéry begann 1894 in Paris mit den sogenannten "Cahiers" (Heften), an denen er täglich bis an sein Lebensende 1945 schrieb. In seinen Notizen beschäftigt er sich vor allem mit der Frage: "Was kann ein Mensch?" Sie sind sein eigentliches Hauptwerk, das aber erst posthum bekannt wurde. Nun ist eine Auswahl auf Deutsch erschienen.
Der französische Schriftsteller Paul Valéry wurde 1871 in der kleinen Hafenstadt Sète geboren, studierte im nahen Montpellier Jura und ging 1894 nach Paris. Dort begann er mit den sogenannten "Cahiers" (Heften), an denen er tagtäglich bis an sein Lebensende 1945 schrieb.

In Sète gibt es ein modernes Museum mit dem Namen "Musée Paul Valéry". Das ist ein bisschen irreführend, denn dem Dichter und Denker Valéry ist nur ein Saal gewidmet (alles andere ist Kunstausstellungen vorbehalten), darin zwei, drei Briefe an eine späte Geliebte, recht gute Bronzebüsten von seiner Hand und viele mittelmäßige Aquarelle. Valéry hat immer gern gezeichnet, schon in den Heftchen, die der halbwüchsige Schüler mit vom Tod faszinierten Versen füllte. Das Beste im Valéry-Saal ist das Manuskript des Langgedichts "Cimetière marin", das Rilke unter dem Titel "Der Friedhof am Meer" ins Deutsche übersetzte; auf diesem Friedhof gleich vor dem Museum liegt Valéry begraben, von hier geht der Blick über "das Meer, das Meer, ein immer neues Schenken".

Auch die erst nach seinem Tod bekannt gewordenen "Cahiers" sind regelmäßig von Skizzen unterbrochen. Wichtiger: auch die "Cahiers" bieten uns "ein immer neues Schenken", ein Spektrum und eine Radikalität intellektuellen Schweifens ohnegleichen; sie sind keine Tagebücher im hergebrachten Sinne. Seit seinem Umzug nach Paris 1894 setzte sich Valéry jeden Morgen zu nachtschlafender Zeit an den Schreibtisch, unterstützt von schwarzem Kaffee und schwarzer Zigarette, und notierte seine Gedanken – zu einer Tageszeit, in der "die Dinge dieser Welt, die Ereignisse, meine Geschäfte, sich noch nicht in – – mich einmischen."

Das Ergebnis sind unbeeinflusste und unzensierte Gedanken über den Menschen allgemein, über das Ich und das Selbst, über die Sprache, über das Denken und das Wahrnehmen, über die Skepsis und schließlich – ein Thema, das Valéry am meisten beschäftigte – über die Frage "Was kann ein Mensch?", eine Frage, die schon sein Alter Ego Monsieur Teste stellte, der von sich sagte: "Dummheit ist nicht meine Stärke." Alles muss ausgemessen werden, wenn wir uns nur mit einbeziehen, kein Wunder, dass er eines Morgens notiert: "Täglich neue Fragen."

Jene Fragen, die sich mit Politik, Literatur und so weiter, also eher konkreten Dingen beschäftigen, lässt der Herausgeber und "Philosophische Praktiker" Thomas Stölzel freilich aus, er möchte Valéry als Ahnen seiner eigenen (Stölzels) therapeutischen Philosophie beanspruchen. Das bleibt seine Entscheidung (und natürlich die Christian Dörings, der die Andere Bibliothek seit Kurzem führt), eine Auswahl (und sei es eine ideologische) musste getroffen werden, wir haben hier ja nur einen winzigen Bruchteil der 27.000 Originalseiten vor uns liegen. Diese Auswahl zeigt uns den Sprachkritiker, den Skeptiker und Rationalisten Valéry, den Denker über das Denken, Stölzels schwärmerisches, etwas geziertes Vorwort ist ungemein fachkundig und umfassend.

Besprochen von Peter Urban-Halle

Paul Valéry: Ich grase meine Gehirnwiese ab
Paul Valéry und seine verborgenen Cahiers
Ausgewählt und mit einem Essay von Thomas Stölzel
Aus dem Französischen von einer Übersetzergruppe
Eichborn Verlag, Frankfurt/Main 2011 (Die Andere Bibliothek, Band 317)
348 Seiten, 32 Euro