Integrationsexperte mit Street Credibility

23.10.2012
Nach dem autobiografischen Buch "Türken-Sam" widmet sich Cem Gülay erneut den Themen Migration und Integration. "Kein Döner Land" ist eine Bestandsaufnahme in vielen einzelnen Szenen, Porträts und Gesprächen. Der Autor weiß, wovon er redet - und sein Text läuft quer zu allen Erwartungen.
Wenn man Bücher nach Genres sortieren möchte, könnte man Cem Gülays erstes Buch "Türken-Sam" (2009) eine Autobiografie nennen. Hamburger Abiturient mit Migrationshintergrund wird nicht Student, sondern Gangster. Cem mutiert zu Türken-Sam, macht zehn Jahre lang ein wenig Karriere in der organisierten Kriminalität, Ressort Warentermingeschäfte, steigt dann aus und wird Integrationsspezialist. Eine Coming-of-age-Geschichte, erzählt von ihm selbst (und einem Co-Autor).

So gesehen wäre sein neues, zweites "Kein Döner Land" ein Road Movie. Es handelt von vielem, was danach passiert ist - mit Cem Gülay, dem Buch, dem ganzen Komplex namens "multikulturelle Gesellschaft", der seit ein paar Jahren wenigstens nicht mehr beschwiegen wird. Auch ins Fernsehen haben es inzwischen ein paar muslimische Menschen geschafft: als Kabarettisten, Politiker, Unternehmer, männlich wie weiblich. Cem Gülay ist ein hübsches Kerlchen, er hat auch ein blitzhelles Köpfchen und das Allerwichtigste: street credibility. Der Mann weiß, wovon er spricht, wenn es um Jungmacho-Gehabe, Gewalt und kriminelle Karrieren geht, und redet Tacheles, wo immer die Debatte tobt - in Talkshows, Politzirkeln, im Internet.

Vor allem aber reist er durchs Land, zu Lesungen oder Podien, oft auf Einladung von Streetworkern, Lehrern, Leuten, die solche Power dringend brauchen. Sie arbeiten an der Basis dessen, was er den "dreißigjährigen deutsch-türkischen Konflikt" nennt. Und der brodelt nicht bloß in Neukölln, wo ihn den Gesetzen des medialen Erregungsmanagements gemäß alle verorten. Der schwärt eher noch bedrohlicher in der vermeintlich friedlichen Provinz, in Hessisch-Odenwald, der Oberpfalz, dem Saalekreis bei Halle, zum Beispiel. Da, wo deutsch öfter mal "doitsch" meint und kein Dönerland in dieser Zeit in Sicht ist.

"Kein Döner Land" ist eine Bestandsaufnahme in 51 Kapitelchen. Es sind ineinandergreifende Splitter, Szenen, Porträts, Gespräche. "Kurze Interviews mit fiesen Migranten" eher weniger. "Mit Samthandschuhen angefasst" wird niemand - weder "Schwarzköpfe" und "Biodeutsche", die sich gegenseitig auch gern bösere Namen geben, noch "Teflon-Gutis", die vor lauter Angst, rassistisch genannt zu werden, jeden Zuwanderer zum "Bereicherer" erklären, noch Nazis. Manche kriegen beißenden Spott ab, andere fröhliches Gelächter, wieder andere warmherzige Anerkennung. So erfährt man endlich auch mal von Leuten, die mit guten Ideen etwas verändert haben, aber nie in die Medien kommen. Parallelwelten aus Lebenserfahrung und gesundem Menschenverstand.

Dieses Buch muss man nirgends hinsortieren. Was Cem Gülay und Helmut Kuhn, der auch diesmal sein Co-Autor ist und seine eigene street credibility als glänzender "Asphaltliterat" mitbringt, geschrieben haben, läuft quer zu allen Erwartungen. Und zwar mutwillig - es wirft ständig mit intelligenten Volten, kecken Fragen und klaren Ansagen Sand ins Getriebe jenes Automatismus, der so gern aus jedem Punkt eine Linie ableiten, aus jedem Satz eine Schublade zimmern möchte. Mitten rein ins Getriebe des Denkens in Ausgrenzungen also.

Besprochen von Pieke Biermann

Cem Gülay und Helmut Kuhn: Kein Döner Land. Kurze Interviews mit fiesen Migranten
dtv, München 2012
220 Seiten, 14,90 Euro