Integration

Wir können das!

04:33 Minuten
Ein vermutlich aus Syrien stammender Flüchtling macht eine Kusshand und hält dabei ein Bild von Angela Merkel in die Kamera, während er und etwa 800 weitere Personen aus Ungarn am 5. September 2015 am Münchner Hauptbahnhof in München eintreffen.
Ankunft am Hauptbahnhof in München: 2015 war eine ungewöhnliche Zeit, meint Ferda Ataman - aber trotzdem keine neue Situation. © Getty Images Europe / Sean Gallup
Von Ferda Ataman · 04.09.2020
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Tausende in Ungarn gestrandete Flüchtlinge: Vor fünf Jahren ließen Österreichs Kanzler und die Bundeskanzlerin sie einreisen – kurz nach Merkels "Wir schaffen das". Für Publizistin Ferda Ataman stand das nie infrage: "Wir können das", meint sie.
2015 war wieder so ein Jahr, indem sich viele Migrationsexpert*innen am Kopf gekratzt und gewundert haben dürften. Die politischen Debatten klangen, als hätten wir es mit einem völlig neuen Phänomen zu tun: Migration als Notfall, als Ausnahmezustand. Als wäre Deutschland zum ersten Mal damit konfrontiert, dass viele Zuwanderer*innen kommen.

Einwanderung ist der Normalfall

Natürlich war 2015 und der sogenannte "Sommer der Migration" eine außergewöhnliche Zeit. Die Zahl der geflüchteten Menschen erreichte über eine Million, fast 480.000 Asylanträge wurden gestellt. Aber neu war die Situation trotzdem nicht.
Migration ist vielmehr der Normalfall. Unser Land, mitten in Europa, war schon immer ein Mekka für Mobile. Auch als es noch gar kein Deutschland gab, wurde hier massenweise ein- und ausgewandert. Aber auch die Bundesrepublik und die DDR waren von der ersten Stunde an damit beschäftigt, Millionen von Flüchtlingen und Migrant*innen zu integrieren.
1950 lebten zwölfeinhalb Millionen Vertriebene in Deutschland. Später kamen weitere Millionen Gastarbeiter*innen, Aussiedler*innen und Geflüchtete aus dem Jugoslawienkrieg und andere dazu.

Deutschland, ein Integrationswunderland

Selbst wenn wir nur die neueste Geschichte betrachten, blicken wir auf eine jahrzehntelange Erfahrung als Einwanderungsland zurück. Dabei hat die Politik viel gelernt: 2005 hat sie zum Beispiel mit dem Zuwanderungsgesetz verpflichtende Integrationskurse eingeführt.
Seither gibt es Sprach- und Orientierungskurse für Neuzugewanderte. 2,3 Millionen Migrant*innen haben die Kurse in den letzten 15 Jahren durchlaufen. Ein Modell, das so erfolgreich ist, dass es andere Länder von uns abgeguckt haben.
Auch die Zeiten, in denen ausländische Gehirnchirurgen bei uns Taxifahren mussten, sind vorbei. Deutschland ist bei der Anerkennung von ausländischen Studienabschlüssen und Zertifikaten viel besser geworden. 2015 landete Deutschland in einer weltweiten Vergleichsstudie von Einwanderungsländern unter den Top Ten für seine Integrationspolitik.
Laut "Migration Integration Policy Index" gelingt es vor allem auf dem Arbeitsmarkt, Eingewanderte gut zu integrieren. Hier lag Deutschland sogar auf Platz vier, gleichauf mit Kanada. Wir sind so etwas wie ein Integrationswunderland. Wir wissen inzwischen, wie es geht.

Kurse allein reichen natürlich nicht

Natürlich läuft nicht alles nur rund: In manchen Gegenden fehlen genügend Kursangebote und die Lehrkräfte werden oft nur prekär bezahlt. Und Kurse allein reichen natürlich nicht. Die deutsche Antidiskriminierungs- und Antirassismuspolitik, die Kehrseite des Ganzen, muss besser werden.
Aber alles in allem hat Deutschland seit den 50er-Jahren enorme Fortschritte gemacht. Merkel hat sich vermutlich auch darauf berufen, als sie sagte: "Wir haben so vieles geschafft: Wir schaffen das." Sie hätte auch sagen können: "Wir können das!"
Heute, fünf Jahre später, wissen wir aus wissenschaftlichen Untersuchungen, dass die Integration der neuesten Einwanderer wieder ziemlich gut gelungen ist. Über 40 Prozent der Erwachsenen haben eine Beschäftigung gefunden und fast alle ihre Kinder sprechen gut Deutsch.

Gelassen in die Zukunft blicken

Natürlich gibt es noch Herausforderung und Probleme. Aber die ziemlich ausführlichen Studien zeigen, an welchen Stellen Regelungen angepasst und Verfahren verbessert werden müssen. Wir könnten also gelassen in die Zukunft blicken und etwas Vertrauen haben, dass wir das wirklich schaffen.
Nur: Leider verlaufen unsere Migrationsdebatten eher gefühlig und selten an Fakten entlang. Gelungene Integration interessiert uns nicht. Stattdessen reden wir vor allem über Desintegration. Seit Jahren gelingt es Konservativen und Rechten immer, das Narrativ der gescheiterten Integration durchzusetzen.
Also ist Migration bei uns traditionell ein angstbehaftetes Problemthema, statt eines, auf das wir selbstbewusst und zuversichtlich blicken. Höchste Zeit, dass sich das ändert. Wir sollten die Tatsache, dass Menschen nach Deutschland kommen, positiv sehen – als Zeichen einer guten Kontinuität. Schließlich gehört Migration zur DNA unseres Landes.

Ferda Ataman ist Publizistin und lebt in Berlin. Sie ist Sprecherin der "Neuen Deutschen Organisationen", einem bundesweiten Netzwerk von Initiativen, die sich für Vielfalt und gegen Rassismus engagieren und Mitbegründerin des Vereins "Neue deutsche Medienmacher" , einer Initiative für mehr Vielfalt in den Medien.

Ein Porträt der Publizistin Ferda Ataman.
© imago images / photothek / Florian Gärtner
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