Inszenierungen in der Kritik

Wo ist das Theater der Kraft, Poesie und Ästhetik?

Eine schreiende Frau
Zwischen Verzücken und Entsetzen - so die Publikumsreaktionen mitunter im Theater. © picture alliance / CTK
Von Christoph Farkas · 26.11.2016
Bei einer Diskussionsveranstaltung über die in der Kritik stehenden Münchner Kammerspiele schreit eine Zuhörerin: "Wo ist das Theater der Kraft, Poesie und Ästhetik?" Diese Frage haben wir namhaften Theatermachern gestellt. In den Antworten ist etwa von Mut, Zukunft und einer S-Bahn-Brücke die Rede.
Den Münchner Kammerspielen und ihrem Intendanten Matthias Lilienthal schlägt derzeit massive Kritik entgegen. Am vergangenen Sonntag diskutierten Publikum, Ensemble, Theaterleitung und Presse bei einer Veranstaltung der Bühne. Dabei schrie eine Frau aus dem Publikum: "Wo ist das Theater der Kraft, Poesie und Ästhetik?" Diese Frage haben wir an namhafte Theatermacher weitergereicht:
Mely Kiyak (Publizistin und Kolumnistin des Maxim Gorki Theaters):
"Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mir die Wut dieser Ruferin gefällt. Da ist nämlich alles drin: Verzweiflung, Hoffnung, Hysterie."
Fabian Hinrichs (Schauspieler, unter anderem an der Volksbühne Berlin):
"Ich würde fragen, für die Leute, die da rufen: War es denn schon mal da, in München zum Beispiel, dieses Theater? Also, das heißt, ich denke, es sind viele Missverständnisse da vorhanden, was Theater, Schauspielerei und Kunst überhaupt ist. Und darüber müsste man sich eigentlich unterhalten. Auf jeden Fall gibt es das."
Matthias Lilienthal, Intendant der Münchner Kammerspiele 
Matthias Lilienthal, Intendant der Münchner Kammerspiele, steht in der Kritik.© Deutschlandradio / Norbert Wasmund
Annemie Vanackere (Intendantin Hebbel am Ufer Berlin):
"Dieses Theater ist überall dort, wo wir mit Worten allein nicht mehr weiterkommen. Wo wir singen oder tanzen oder spielen müssen, um etwas auszudrücken. Wenn das gelingt, kann es sehr beglückend, aber auch verstörend sein. Theater ist überall, wo in einem sicheren Raum so viel wie möglich experimentiert werden kann, aber auch soll. Und wo man sich begegnet, mit allem, was man ist."
Ersan Mondtag (Autor und Regisseur):
"Auf jeden Fall immer woanders als dort, wo man sich darauf einigt, wo und was es ist."
Daniel Wetzel (Rimini Protokoll):
"Genau hier, genau hier! Kraft, Poesie, Ästhetik, all das, genau darum geht's hier, genau darum gehts hier. Und zwar so wie wir denken, dass es jetzt geht. Und deswegen müssen wir immer, immer wieder neu probieren: Wie kann Theater überhaupt in unserer Zeit, jetzt, wichtig werden? Und wie kann es funktionieren? Was bringt mich da rein? Und wie bleib ich da drin? Und wie komme ich wieder? Das ist die Frage."

"Ich würde sie gerne in mein nächstes Stück einladen"

Ruf der Frau bei der Veranstaltung: "Wo ist dieses Theater?"
Miriam Tscholl (Leiterin der Bürgerbühne Dresden):
"Ich will wieder ein Kind sein! Ich will, dass die Welt wieder wird wie früher, also mach! Ich will, dass die Zuschauer das Theater, was ich mache, total toll finden! - Ich hab keine Ahnung, welche Zeit, und welches Theater die Dame da so wütend wiederhaben will. Zum einen finde ich das Engagement der Frau ganz toll und würde sie gerne in mein nächstes Stück auf die Bühne einladen. ...
Ruf der Frau bei der Veranstaltung: "Theater ist ein Ort der Kraft!"
"...Zum andern macht mich ihr Kommentar stutzig, weil es sich für mich so anhört, als weiß sie ganz genau was gutes Theater ist..."
Ruf der Frau bei der Veranstaltung: "Theater ist ein Ort der Poesie!"
"... Ich hoffe, dass die Dame nicht zu denen gehört, die sich auf ein Gewohnheitsrecht berufen und ein Theater niederschreit, welches Kontakt aufnehmen will zur Wirklichkeit..."
Ruf der Frau bei der Veranstaltung: "Theater ist ein Ort der Ästhetik"
"... Und zu Menschen, die sich in der Vergangenheit nicht ins Theater eingeladen fühlten. Und das sind viele, das ist die große Mehrheit."
Christian Stückl (Intendant des Münchner Volkstheaters):
"Ich glaube, dass man dieses Theater überall finden kann, an vielen verschiedenen Orten in ganz verschiedenen Formen. Und ich glaube, dass man jetzt nicht immer Angst haben darf vor was Neuem, dass man nicht Angst haben darf vor einem Wandel an der Volksbühne, vor einem Wandel an den Kammerspielen."

"Der Volksmund hat oft ein gutes Gespür"

Amelie Deuflhard (Intendantin Kampnagel in Hamburg):
"Wenn wir heute über kräftiges Theater in einer globalisierten Welt reden, kräftiges und gutes Theater, dann würde ich nicht nur in Deutschland suchen, sondern immer auch international. In Deutschland gibt es natürlich auch kräftiges Theater. ...
Ruf der Frau bei der Veranstaltung: "Wo ist dieses Theater?"
"... Frank Castorf, Christoph Schlingensief und noch einige andere, ich nenne René Pollesch, ich nenne mal die. Aber man kann auch nach Südafrika gehen, da findet man Brett Bailey, einen Theatermacher, der sich seit zig Jahren mit Rassismus auseinandersetzt, mit sehr kraftvollen Theaterinszenierungen. Oder in den Kongo, wo Faustin Linyekula sich mit dieser Krisen- und Dauerbürgerkriegssituation auseinandersetzt."
Fabian Hinrichs:
"Merkwürdigerweise hat der Volksmund ja oft in allen Bereichen ein ganz gutes Gespür. Und seine Ahnungen sind auch oft nicht falsch. ..."
Die Intendantin des Berliner Theaters Hebbel am Ufer (HAU), Annemie Vanackere.
Die Intendantin des Berliner Theaters Hebbel am Ufer (HAU), Annemie Vanackere sagt: "Dieses Theater ist überall dort, wo wir mit Worten allein nicht mehr weiterkommen."© David von Becker
Ruf der Frau bei der Veranstaltung: "Wo ist dieses Theater?"
"... Aber was die Kunst betrifft, hat das oft eine soziale Tragik. Weil die Leute – und übrigens auch sogenannte professionelle Kritiker – oft irgendeine Verwechslung machen und nicht tief genug sich das anschauen und durchdenken. Es gibt die Wirklichkeit und es gibt – gab zumindest – die Dichtung, also den Text. Und da haben wir schon die Probleme: Es gibt keine richtigen Autoren mehr, also sehr wenig gute Autoren, und es gibt oft die Verwechslung, dass Schauspielerei, was ja auch ein wesentlicher Bestandteil des Theaters ist, dass Schauspieler eigentlich eine Rolle Verkörpern sollten, also möglichst tief in die Rolle einsteigen. Dass sie Wirklichkeit hervorrufen sollen. Aber Wirklichkeit? Dann wird der Schauspieler eigentlich rausgeschrieben. Er sollte doch künstlerisch selbst gestalten."
Christian Stückl:
"Und dann können ganz kraftvolle Sachen entstehen und es können ganz schreckliche Sachen entstehen, aber das gehört halt auch dazu."
Amelie Deuflhard:
"Ich glaube, das ist die große Herausforderung für die Zukunft, und nicht zu sagen, wir wollen unbedingt festhalten immer nur Stücke am deutschen Stadttheater zu spielen, mit deutschen Schauspielern und Regisseuren."
Miriam Tscholl:
"Kraft, Poesie und Ästhetik sind wichtig, aber ich glaube nicht, dass das reicht."
Ruf der Frau bei der Veranstaltung: "Wo ist dieses Theater?"
Mely Kiyak:
"Und ich möchte ihr zurück rufen: Suchen Sie immer weiter, vergessen Sie aber bitte niemals, nicht das Theater, sondern der Mensch ist der Ort der Kraft, der Poesie und der Ästhetik. Und diese Poesie finden Sie unter einer S-Bahn-Brücke, auf dem Pappschild eines Obdachlosen, Sie finden Sie in den Doppelstockbetten im Geflüster der Flüchtlinge, die in Turnhallen schlafen. Sie finden sie auf einem Schulhof, wo pubertierende Jugendliche sich schlüpfrig amüsieren. Also überall dort, wo Menschen sind, finden Sie Kraft, Ästhetik und Widerstand, also immer auch dort, wo Sie sind!"
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