Insektenplage

Streit ums Schädlingsgift

Raupen des Eichen-Prozessionsspinners an einem Eichenstamm
Raupen des Eichenprozessionsspinners an einem Baumstamm © dpa/ZB/Patrick Pleul
Von Michael Engel · 31.05.2014
Klein, haarig und ungeheuer gefräßig: Der Eichenprozessionsspinner frisst in ganz Deutschland Bäume kahl. Sogar dem Menschen kann die Raupe gefährlich werden. Mit Gift versuchen Gemeinden, ihm den Garaus zu machen, doch dagegen regt sich Widerstand.
Volles Rohr. Mit Hochdruck schießt der giftige Nebel aus dem Rohr der Turbinenspitze 30 Meter hoch bis in die Baumkronen. Hier, in Gartow, unweit von Gorleben, müssen 150 Eichen aus dem 19. Jahrhundert behandelt werden. Die herrliche Allee vor den gefräßigen Raupen des Eichenprozessionsspinners zu schützen, ist das Ziel, erklärt Diplom-Forstwirt Jens Lachmann.
"Also, wenn man jetzt nichts tun würde, also wir würden jede Maßnahme unterlassen, dann würden wir wahrscheinlich in vier bis sechs Wochen spätestens einen ganz massiven Befall feststellen können durch die Befraß-Situation der Raupen."
Noch sind die gräulich-grünen Larven winzig, entsprechend klein ist ihre Gefräßigkeit. Wichtiger noch: Die Raupen haben noch keine Haare entwickelt, die auch für den Menschen gefährlich werden können. Christian Järnecke vom Bürgeramt Gartow:
"Wir machen diese Besprühaktion jetzt schon zum zweiten Mal in Folge. Und nach der letzten Besprühaktion gab es sehr viel weniger Beschwerden als in den Jahren davor, dass die Leute über Hautausschlag geklagt haben oder Atemnot. Und dann natürlich auch der Tourismus in Gartow. Da ist man sehr auf den Tourismus angewiesen. Und wenn der Elbe-Radweg genutzt wird, die Fahrradfahrer kommen hier alle lang, das stellt ein Problem dar."
Nacht für Nacht Asthmaanfälle
Das Problem sind die mikroskopisch kleinen Spiegelhaare, die von den größeren Raupen gebildet werden und im inneren Hohlraum ein Nesselgift enthalten. Das Tückische daran: Sie brechen schnell ab, fliegen mit dem Wind davon, und bleiben zehn Jahre lang gefährlich. Menschen, die damit in Berührung kommen, reagieren mit Juckreiz, Atemnot bis hin zum allergischen Schock. Später bauen die Raupen Gespinstnester weiter unten am Baumstamm – kritisch für Passanten und spielende Kinder. Dr. Marion Wunderlich vom Gesundheitsamt der Stadt Lüneburg kennt die Anrufe besorgter Menschen.
"Wenn es dann so ist, dass es in der Nacht anfängt zu jucken, und es gibt am ganzen Körper Quaddeln, die Augen sind rot: unter die Dusche. Aber nicht vergessen, die Kleidung bei 60 Grad zu waschen, das Bettzeug abzuziehen. Wir hatten auch Aussagen von Patienten, die immer Nacht für Nacht Asthmaanfälle bekamen, und hatten tagsüber alles gemacht, bis auf die Tatsache, dass sie ihre Bettwäsche nicht gewechselt hatten. Oder Eltern, die anriefen, mein Kind hat weiter nichts bis auf Ausschläge. Und dann fanden wir heraus, dass die Hemden draußen getrocknet wurden und deswegen dieses Zeug beinhalteten."
Der Eichenprozessionsspinner ist eine heimische Art. Wie der Name schon sagt: Die Schmetterlingsraupe mag Eichen. Sie zieht in Reih' und Glied, ähnlich einer Prozession, in die Baumkrone und spinnt Nester aus dünnen Fäden. So auffällig die behaarte Raupe ist, so unscheinbar kommt der völlig harmlose Falter daher –ähnelt einer unscheinbaren Motte. Im Spätsommer kleben die Weibchen ihre Eier direkt auf die obersten Zweige der Eichen – hoch oben in der Baumkrone, erklärt Dr. Nadine Bräsicke vom Bundesforschungsinstitut für Kulturpflanzen in Braunschweig.
Klimawandel begünstigt Ausbreitung
"Innerhalb kurzer Zeit entwickelt sich dann auch schon in diesen Eiern die eigentliche Junglarve, die noch in diesem Ei überwintert. Und im April, wenn die Witterung stimmt, also trockenwarme Verhältnisse herrschen, dann schlüpfen die Larven. Und diese Larven vollziehen praktisch sechs Larvenstadien, in denen sie sich immer wieder häuten. Und im August erscheint dann wieder der Falter."
Erste Berichte über eine Raupenplage stammen schon aus dem Mittelalter. Immer wieder gab es Kahlfraß, aber auch Jahrzehnte ohne Probleme. 1987 sollte der Eichenprozessionsspinner sogar auf die Rote Liste bedrohter Tierarten: Um ein Haar hätten die Plagegeister unter Naturschutz gestanden.
"Die Ursachen für die Verbreitung auch in Deutschland ist eigentlich noch nicht geklärt. Es handelt sich aber bei diesem Insekt um ein Wärme liebendes Insekt, und somit gehen wir natürlich davon aus, dass auch der Klimawandel dieses Insekt begünstigt. In erster Linie sind warme und trockene Witterungen günstige Entwicklungsbedingungen für diesen Falter."
Bester Zeitpunkt für den Kampf gegen den Eichenprozessionsspinner ist Ende April bis Mitte Mai. Die immer noch kleinen Larven haben keine Härchen entwickelt. Außerdem gibt es noch keine Gespinstnester – ein Problem besonders in besiedelten Gebieten.
Auch andere Insekten fallen dem Gift zum Opfer
"Nun beginnen wir mit der Sprüherei. Wie man jetzt hinten auch schön sehen kann, dass halt das Gebläse die Bäume auch schön ansprüht und dementsprechend halt auch das Präparat ausgebracht wird."
Stephan Grübmeyer besprüht mit seinem Sonderfahrzeug eine junge Eichen-Allee in Laave, östlich der Elbe. Die Tachonadel zeigt drei km/h. Es geht nur langsam voran.
"Dieser Kriechgang muss halt verwendet werden, weil ich kann jetzt natürlich auch nicht mit 50 km/h an so einem Baum vorbeifahren. Es muss in Schrittgeschwindigkeit passieren, dann genügend Präparat an den Baum dran kommt."
Zum Einsatz kommen Giftstoffe wie Dimelin, Dipel ES oder Karate. Getötet werden dann aber auch andere Insekten, insbesondere Schmetterlingsarten. Das Umweltbundesamt mahnt deshalb zur Zurückhaltung. In jedem Fall sollten vorher – im Januar – die Eier gezählt und nur dann gesprüht werden, wenn die Baumbestände existentiell bedroht sind, so die Behörde in Jena. Nicht praktikabel, antwortet Marion Wunderlich aus Lüneburg.
"Sie sehen die Eier nicht. Die Eier sind fingernagel-dünn und auf der Krone von Eichen. Sie müssen Eier suchen, um dann da Befall prognostizieren zu können. Wir von der Basis machen das ganz anders. Wir machen es so, dass wir die Bürger bitten, die Nester, die sie dick und braun an den Stämmen sehen, an ihre Ordnungsämter zu melden. Am Anfang habe ich das alles noch über das Gesundheitsamt geregelt, aber nun sind wir sehr eingespielt, und das läuft sehr gut über die Ordnungsämter."
Der Naturschutzbund in Brandenburg ging noch einen Schritt weiter und wollte die Insektizide aus Naturschutzgründen gerichtlich verbieten lassen. Nester in bewohnten Gebieten könne man auch mechanisch entfernen, so das Argument. Befallene Wälder jenseits von Ortschaften sollten mit Warntafeln bestückt werden. Die Natur, so Nabu-Experte Waldemar Wachtel, regelt das Problem von selbst.
"Wenn man jetzt natürlich genau das Gegenteil macht und großflächig besprüht mit Pestiziden oder sonstigen Giftmitteln, dann erreicht man das Gegenteil. Die natürlichen Feinde werden vernichtet. Sodass also hier in Zukunft dann immer wieder mit irgendwelchen mechanischen oder anderen Dingen eingegriffen werden muss, und das ist die schlechteste Lösung."
Harmstorf, nur ein Steinwurf von der Elbe entfernt. 600 Liter Wasser mit Dimelin vermischt gehen gerade per einem Hubschrauber in die Luft. Im Landkreis Lüneburg geht es den behaarten Raupen auch von oben an den Kragen. Carsten Schigulski:
Ganze Wälder kahl gefressen
"Jetzt geht der erste Flug von unserem Landeplatz in Harmstorf direkt nach Nordosten, wo die Strecke Prethen – Amt Neuhaus beflogen wird. Dort werden die Eichen dann durch den Hubschrauber beflogen, der Eichenprozessionsspinner bekämpft. Er kehrt nach seinem ungefähr 15 bis 20 minütigen Flug zurück, um hier wieder aufgetankt zu werden."
Bloß nicht zu lange mit der Bekämpfung warten – so denken die Verantwortlichen vor allem mit Blick auf Brandenburg, wo die Raupen des Eichenprozessionsspinners schon seit mehreren Jahren wüten, ganze Wälder kahl fressen und massive gesundheitliche Probleme verursachen. Der Erfolg kann sich sehen lassen: So konnte in Lüneburg die Zahl der gesundheitlichen Beschwerden innerhalb von einem Jahr von 141 auf 21 gesenkt werden. Noch einmal Dr. Marion Wunderlich:
"Wir wollen ja nicht in die Natur eingreifen. Wir wollen ja kein Gleichgewicht verändern. Wir versuchen, die Last zu senken und den unmittelbaren Schaden zu minimieren, durch Bekämpfung eben an bestimmten Orten. Aber wir können nicht die gesamte Last wirklich wirksam drücken."
25 Euro pro Baum kostet die Bekämpfung der behaarten Raupen. Im Landkreis Lüneburg kamen vergangenes Jahr 68.000 Euro zusammen. Berlin gab 400.000 Euro aus. In Brandenburg waren es nach Angaben der Bundesregierung sogar 4,5 Millionen. Das Geld, so der Naturschutzbund, wäre besser im Waldumbau aufgehoben. Ein gesunder Wald löst das Problem von selbst, denn die extreme Vermehrung der Schmetterlingsraupe sei auch ein Zeichen falscher Waldpolitik. Das Gift, kritisiert Waldemar Wachtel, tötet obendrein auch noch die Fressfeinde.
Nur Teilsieg für Umweltschützer
"Gerade in den Eichen ist ein sehr reicher Lebensbereich für vielschichtige Tierpopulationen. Es sollen zirka 200 Arten in diesen Eichen vorkommen. Und das ist ein Indiz dafür, wie wichtig doch gesunde Bäume sind."
Juristisch gesehen bekam der NABU nun recht. Anfang Mai stoppte das Verwaltungsgericht Potsdam den Gifteinsatz in Brandenburg speziell in sogenannten Fauna-Flora-Habitat-Gebieten. Ein generelles Einsatzverbot für Insektizide, wie gefordert, sprachen die Richter aber nicht aus. Die Naturschützer hatten moniert, dass sie als Träger öffentlicher Belange beim Erlass der Allgemeinverfügungen von Land und den Kommunen nicht beteiligt wurden. Eine solche Beteiligung war nach Ansicht der Richter aber nur für die Fauna-Flora-Habitat-Gebiete verpflichtend. Anderswo, im Landkreis Lüchow Dannenberg, setzt man weiterhin auf die Giftspritze. Jens Lachmann:
"Wenn es zu einer massenhaften Übervermehrung kommt, kann man kaum etwas mit natürlichen Mitteln bewirken. Also wenn jetzt Leute meinen, man müsste einfach nur ein paar Sträucher irgendwo hinpflanzen, und die Befallssituation würde sich relativieren, das entspricht einfach nicht den Tatsachen, die wir draußen vorfinden."
Tatsächlich hat der Eichenprozessionsspinner vielerorts freie Bahn. Denn auch sonst haben die Fressfeinde schlechte Karten: Fledermäuse finden kaum noch Nisthöhlen, in den Gärten fehlt es an heimischen Hecken, die den Falter jagenden Singvögeln eine Heimat bieten. Mit dem chinesischen Wacholder im durchgestylten Vorgarten kommt nur eine einzige Vogelart klar. Beim heimischen Wacholder wären es 43. Doch das ist eine andere Geschichte.
Mehr zum Thema