"Innere Führung" in der Krise

Braucht die Bundeswehr ein neues Leitbild?

Soldatinnen und Soldaten des Sanitätsregiment 2 der Bundeswehr in Rennerod bei einem Marsch.
Das gegenwärtige Konzept der Inneren Führung vernachlässige den Kampfaspekt, kritisieren junge Bundeswehroffiziere. © imago/Rainer Unkel
Von Julia Weigelt · 15.10.2018
Staatsbürger in Uniform sollen sie sein - und im Auslandseinsatz so etwas wie Entwicklungshelfer. Doch entspricht das der Realität, die Soldaten etwa in Afghanistan erleben? Nein, meinen junge Offiziere und fordern ein neues Konzept der Inneren Führung.
Es ist ein vielschichtiges und oftmals vages Konzept: Politische Bildung, Fürsorge und die Vereinbarkeit von Familie und Dienst – all das sind Bestandteile der sogenannten Inneren Führung der Bundeswehr. Gleichzeitig wird darin der Aspekt der Parlamentsarmee betont sowie die strikte Orientierung an der Würde des Menschen. Ist ein Befehl nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, sind deutsche Soldaten gar zum Ungehorsam verpflichtet. Mit dem Wehrbeauftragten des Bundestages haben Soldaten einen mächtigen Ansprechpartner, um auf Missstände hinzuweisen.
Nun regt sich Kritik an der Inneren Führung, und zwar innerhalb der Streitkräfte. Es sind die Jungen, die die Reihe der Kritiker anführen. Junge Offiziere um die 30, die bereits mehrere Auslandseinsätze hinter sich haben und sich sicher sind: Das Konzept aus dem Kalten Krieg ist heute nicht mehr zeitgemäß. Einer von ihnen ist Major Marcel Bohnert: Er fordert eine Reform der Inneren Führung und begründet dies unter anderem mit Erfahrungen, die er in seinem Afghanistan-Einsatz gemacht hat:
"Ich war 2010 das erste Mal bei einer Erkundung in Afghanistan in Kundus in einem Außenposten und habe dort kampferfahrene Fallschirmjäger gesehen. Und ich hatte das Gefühl, dass die mit dem Leitbild des Staatsbürgers in Uniform, das die Innere Führung ja vorgibt, wirklich nichts mehr zu tun hatten."

"In der Inneren Führung geht es zu wenig ums Kämpfen"

Vor allem Angehörige kämpfender Einheiten monieren: Die Hochglanzwelt der Zentralen Dienstvorschrift und ministerieller Bürokraten gehe an der Lebens- und Einsatzwirklichkeit vieler Soldaten vorbei. Bohnert beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema und hat kürzlich das Buch "Innere Führung auf dem Prüfstand – Lehren aus dem Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr" veröffentlicht. Er argumentiert: Die Bundeswehr habe viele strukturelle Veränderungen erfahren, etwa die Aussetzung der Wehrpflicht und die Beteiligung an Auslandseinsätzen. Ein neuer Auftrag erfordert allerdings laut Bohnert auch einen neuen geistigen Überbau. Andernfalls machten sich Soldaten selbst auf, um einen Sinn in ihrem Tun zu finden. Marcel Bohnert:
"Es gibt Studien aus dem ZMSBW, also dem Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, die belegen, dass die Innere Führung gerade an der Basis, bei den niedrigen Dienstgrad-Gruppen, mit einem wirklichen Imageproblem zu kämpfen hat. Ich denke, es ist sehr wichtig, dass wir das Verhältnis von Abstraktion und Konkretem in der Inneren Führung so gestalten, dass auch die Basis etwas damit anfangen kann."
Bohnert findet: In der Vorschrift zur Inneren Führung geht es zu wenig ums Kämpfen. Ein Aspekt, der bei Baudissin noch eine bedeutende Rolle gespielt habe. Wer aber Streitkräfte als uniformierte Entwicklungshelfer darstelle, täusche Bürger und Soldaten.
Bundeswehrsoldaten im Norden von Afghanistan.
Kümmert sich die "innere Führung" zu wenig ums Kämpfen? Bundeswehrsoldaten im Norden von Afghanistan.© Deutschlandradio / Julia Weigelt
Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) weiß von dieser Unzufriedenheit. Sie hat daher den Prozess "Innere Führung heute" initiiert. Bohnert begrüßt den Ansatz, steht der Umsetzung jedoch kritisch gegenüber. Er glaubt, das Ergebnis der Debatte stehe ohnehin schon fest: Innere Führung sei ein tolles Konzept, das lediglich besser umgesetzt werden müsse.

Wird die ethische Bildung vernachlässigt?

Oberstleutnant a.D. Claus von Rosen ist der Nachlassverwalter von Graf Baudissin, also dem Vater der Inneren Führung. Auch von Rosen ist überzeugt: Das Konzept ist weiterhin zeitgemäß. Dass das Verständnis und die Akzeptanz der Inneren Führung gerade bei Unteroffizieren und Mannschaften so gering sei, liege daran, dass in der Ausbildung der Schwerpunkt aufs Schießen und Kämpfen gelegt werde. Nicht nur aus Zeitmangel, kritisiert von Rosen. Eine solide Kampfausbildung sei wichtig, dürfe allerdings nicht dazu führen, dass ethische Bildung vernachlässigt werde.
Den vom Verteidigungsministerium kürzlich eingeleiteten Prozess "Innere Führung heute" begrüßt von Rosen. Verbesserung sei etwa in Sachen Fehlerkultur dringend notwendig – ein typisches Thema der Inneren Führung. Melden von Fehlern dürfe nicht zwangsweise Karrierenachteile mit sich bringen.
"Und solange man Angst hat, dass so etwas aber passiert, dann ist etwas schlecht in der Armee", sagt von Rosen.

Skandale wie der um Franco A. beschädigen das Image

Für Hauptmann Florian Kling, Sprecher des kritischen Soldatenforums "Darmstädter Signal", ist das Konzept der "inneren Führung" insgesamt überarbeitungswürdig. Zwar bleibe die Bundeswehr in Auslandseinsätzen weitgehend skandalfrei – in Deutschland sehe das jedoch ganz anders aus, sagt Kling.
"Ich frage mich dann nur: Wie konnten die Skandale im Inland passieren? Wie konnte im Grundbetrieb, im Friedensbetrieb, also da, wo Soldaten noch mehr Staatsbürger in Uniform sein können als im Auslandseinsatz, wie kann dort die Innere Führung auch funktionieren und wieder funktionstüchtig gemacht werden?"
Hintergrund sind Skandale wie zum Beispiel der Fall Franco A.: Ein mutmaßlich rechtsextremistischer Oberleutnant, der sich als Flüchtling registriert hatte und Anschläge geplant haben soll. Hauptmann Kling fordert, soldatische Tugenden wie Mut auch im Grundbetrieb zu zeigen – etwa wenn es darum gehe, Abläufe kritisch zu hinterfragen.

Gesellschaftliches Einbringen unerwünscht?

Der Soldat als Staatsbürger in Uniform, der durch öffentliche Beiträge die wachsende Kluft zwischen Armee und Gesellschaft schließt – wie aber sieht die Realität aus? Major Marcel Bohnert:
"Was ich erlebe, ist, dass sobald sich Soldaten in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen, von der höheren politischen Leitung oder militärischen Führung sehr skeptisch drauf geschaut wird. Wenn ich die Innere Führung aber richtig verstehe, dann ist das genau das, was gefordert ist: Dass sich Soldaten, vom General bis zum einfachen Soldaten in den gesellschaftlichen Diskurs einmischen, ihre Sicht aufzeigen und dadurch auch die Bande zwischen Bundeswehr und Gesellschaft festigen. Und das ist was, das die Innere Führung theoretisch vorsieht, das wir praktisch aber nur sehr zögerlich beginnen zu leben."
Mehr zum Thema