Innere Erschütterungen

24.08.2009
Es ist eine Binsenweisheit der Literaturgeschichte, die besagt, dass große Schriftsteller zeit ihres Lebens im Grunde nur an einem einzigen Buch schreiben. Das trifft auch auf Dieter Wellershoff zu. Seit seinem Debüt 1966, dem Roman "Ein schöner Tag", erzählt er die gleiche Geschichte.
Doch jedes Mal erzählt er sie anders und so vollkommen neu, dass man sich fragt, wie es ihm gelingt, aus diesem uralten Thema – Held in Krisensituation – immer wieder Funken zu schlagen.

Sein jüngster Roman handelt von einem jungen Mann, einem evangelischen Landpfarrer, der, ohne dies zunächst zu bemerken, an einem existenziellen Wendepunkt angelangt ist. Eines Nachts wird er als Seelsorger zu einem Unfall gerufen. Ein Auto ist mit seinen Insassen, einer Kleinfamilie, in einen See gestürzt, die Frau kam dabei zu Tode, das Kind wird schwer verletzt geborgen. Nur der Fahrer hat äußerlich unbeschadet überlebt, was im Dorf bald zu ungeheuerlichen Vermutungen Anlass gibt. War das Unglück am Ende sogar ein Verbrechen? Obwohl auch er begründete Zweifel an der offiziellen Version hat, beharrt der Pfarrer auf der Unschuldsvermutung.

Dies geschieht nahezu mechanisch, denn bei allem anfänglichen Mitgefühl für den Hinterbliebenen merkt er zunehmend, wie begrenzt er das empfinden kann, was für seine Kirche im Zentrum seelsorgerischer Tätigkeit steht, die Nächstenliebe. Von nun an gelten die Konventionen seines Berufs, die ihn bislang notdürftig geschützt haben, nichts mehr.

Präzise und unaufgeregt beobachtet Dieter Wellershoff seine Hauptfigur. Ungeschützt und ohne doppelten Boden lässt er sie ihre Wahrnehmungen und Empfindungen offenbaren. Denn auch hier wählt der Meister des psychologischen Realismus die personale Erzählperspektive, eine intime Innenschau also und ein Verfahren, das ihm jeden Kommentar von außen erspart.

Umso suggestiver ist die Wirkung, wenn sein Held vor der Einsicht in eine um sich greifende Orientierungslosigkeit steht und ihm bewusst wird, dass diese längst schon begonnen hat, ohne dass er ihr bisher Bedeutung zugemessen hätte. Je weiter er zurückschaut, desto mehr Indizien findet er, kleine Risse und eigentlich abgehakte Veränderungen: eine missglückte Liebesgeschichte, die Schwierigkeiten mit dem Alleinsein, die wachsende Gleichgültigkeit sich selbst gegenüber. Offenbar bedurfte es des äußeren Dramas, um sein Inneres in all seiner Wucht zu erkennen.

Brillant, wie subtil wie Dieter Wellershoff die Geschichte dieser Krise erzählt. Wie ein schleichendes Gift infiziert sie nach und nach alles im Leben dieses Mannes, Freundschaften, eine wie ein diffuses Versprechen aufscheinende neue Liebe, seine Stellung in der Gemeinde, den Glauben an Gott und sein Vertrauen in die Kirche.

Nach so viel Krisengewitter, in dem offenbar neben der Liebe auch die Religion als sinnstiftende Instanz am Rande steht, scheint nicht viel zu bleiben. Die Literatur vielleicht, zumindest dann, wenn sie wie in Wellershoffs Romanen ihren Auftritt hat, so beunruhigend, so lebenserfahren, so zuverlässig und immer wieder überraschend elegant. Kunstvoll, mit einem Wort.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Dieter Wellershoff: Der Himmel ist kein Ort
Roman
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009
304 Seiten, 19,95 Euro