Innensicht deutscher Realität

Rezensiert von Lutz Bunk · 13.01.2006
Rufus Beck lässt als Sprecher von "Hausaufgaben" die Figur des Deutschlehrers Joachim Linde mit mephisto-hafter Raffinesse und Subtilität entstehen. So steht die Sozialstudie Jakob Arjounis als Hörbuch dem Lese-Erlebnis in nichts nach. Der Hörer bekommt eine packende wie beängstigende Innensicht deutscher Realität.
"Joachim Linde, Deutschlehrer am Reichenheimer Schiller-Gymnasium, sah auf die Uhr. 'Also dann versucht doch mal in den 20 Minuten, die uns bleiben, auch ruhig unter dem Eindruck des vorhin gelesenen Walser-Textes zu beschreiben, was ihr meint, welchen Einfluss das Dritte Reich heute, fast 60 Jahre später, auf euer Leben hat.' Linde verschränkte die Arme, lehnte sich gegen die Tafel und ließ den Blick über die Gesichter des Deutsch-Oberstufenkurses "Deutsche Nachkriegsschriftsteller und ihre Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich' streifen."

Das Leben ist hart, so empfindet es jedenfalls Deutschlehrer Joachim Linde. Seine Schüler scheinen desinteressiert und verstehen ihn nicht, genau wie die Schulsekretärin, die ihn schneidet, seit er sie bei der Weihnachtsfeier auf der Damentoilette begrapscht hat. Auch Lindes Familie nimmt keinerlei Rücksicht auf ihn. Seine Frau Ingrid ist in eine psychiatrische Klinik eingeliefert worden, seine Tochter Martina nach einem Selbstmordversuch ausgezogen, und sein Sohn Pablo ist "ein Schlappschwanz", wie Linde findet, auch wenn Pablo es bei amnesty international zum Bereichsleiter gebracht hat, was Linde als fortschrittlich und alternativ denkender Mensch natürlich wärmstens begrüßt.

"Es war Donnerstag, ein warmer, sonniger Frühlingstag und in zwei Stunden wollte er in den Zug nach Berlin steigen, um am nächsten Morgen zu einer dreitägigen Wanderschaft durch die Mark Brandenburg aufzubrechen, ein von ihm seit langem, quasi seit dem Mauerfall vor 14 Jahren gehegter Wunsch; die Wiege Berlins und die Heimat Fontanes und nicht zuletzt die Gegend, aus der Lindes Vater stammte, zu Fuß zu ersinnen, so hatte er es oft gesagt und auch auf Nachfragen geantwortet: das Land mit allen Sinnen in mich aufnehmen, ertasten, erriechen, erschmecken. Linde bildete sich auf außergewöhnliche Formulierungen, Wortschöpfungen sowie Umdeutungen bekannter Wörter etwas ein."

Mit "Hausaufgaben" ist Autor Jakob Arjouni wieder einmal ein großer Wurf gelungen. Exakt 100 Jahre nach dem Erscheinen von Heinrich Manns Roman "Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen" erschafft Arjouni kongenial in der Figur des Deutschlehrers Joachim Linde erneut einen "Professor Unrat" unserer Tage. Nur scheitert Deutschlehrer Linde nicht an einem Marlene-Dietrich-Vamp, wie Professor Unrat in dem Film "Der blaue Engel", sondern Linde hatte vier Jahren zuvor den, wie er meint, verzeihlichen Fehler begangen, nur ein einziges Mal seiner damals 14-jährigen Tochter sexuell nachzustellen. Vier Jahre später eskaliert der Fall, seine Tochter begeht einen Selbstmordversuch, seine Ehefrau informiert, aus der Klinik heraus, das Schulkollegium und die Eltern von Lindes Schülern über dessen vermeintlich pädophile Neigung. Aber Linde schafft es, seine Spuren zu verwischen. Und nur in einem, in einem einzigen Moment ist er ehrlich vor sich selbst.

"Ja, er hatte Martina an dem Morgen wie eine Frau und nicht wie seine Tochter angesehen, und zwar wie die Frau, die er vor langer Zeit so sehr begehrt hatte und immer noch jeden Tag schmerzlich vermisste und der Martina mit jedem Jahr immer ähnlicher geworden war. Für einen kurzen Moment und immer noch vom Schlaf benommen und im hellen gleißenden Licht Südfrankreichs hatte er Martina tatsächlich für seine Ingrid, seine Squaw gehalten, und ganz verborgen war das Martina wohl nicht geblieben. Doch konnte man ihm daraus einen Strick drehen Außenstehende vermutlich schon, aber Ingrid? Musste es ihr nicht ebenfalls wie Schuppen von den Augen fallen, wohin sie ihn durch ihre veränderte Art getrieben hatte und ihr immer ablehnenderes Verhalten der letzten Jahre getrieben hatte?"

Aber einen Sturz des Tyrannen wie bei Heinrich Mann gibt es bei Jakob Arjouni nicht. Zwar muss Linde weiter leiden: Sein Sohn Pablo erfährt von den Anschuldigungen, schlägt seinen Vater blutig, nimmt dessen Auto, hat damit betrunken einen Unfall und liegt danach im Koma. Aber Linde schafft es immerhin, seine Kollegen auf der wegen ihm einberufenen Schulkonferenz, davon zu überzeugen, dass alle Vorwürfe gegen ihn aus der Luft gegriffen sind.

Jakob Arjounis "Hausaufgaben" - Roman wie Hörbuch - geben eine packende wie beängstigende Innensicht deutscher Realität und Kommunikation. Und dass das Hörbuch-Erlebnis das Lese-Erlebnis vielleicht sogar noch übertrifft, liegt allein an der Stimme und am Vortrag von Rufus Beck, der die Figur des Deutschlehrers Joachim Linde mit kongenialer, mephisto-hafter Raffinesse und Subtilität entstehen lässt. Ein wahres Hörerlebnis.

"Auch er war nur ein Mensch, und trotzdem fühlte sich er in diesem Moment wie mit Flügeln. Er hatte es geschafft, und er freute sich darauf, Pablo von allem zu erzählen, wie er Ingrid in Schutz genommen und die Schuld der Klinikführung gegeben hatte - ja, das würde Pablo gefallen, und vielleicht wäre er sogar ein bisschen stolz auf seinen Vater."


Jakob Arjouni: Hausaufgaben.
Gelesen von Rufus Beck.
Hörbuch Verlag, Hamburg, 2005.
4 CD, 223 Minuten
24,90 Euro.