Innenansichten der ägyptischen Revolution

Von Michael Briefs · 19.08.2013
Den Machtkampf zwischen Ägyptens Militärs und dem Regime der Muslimbruderschaft bekommt auch die Minderheit der christlichen Kopten zu spüren. Eine von ihnen ist die Dokumentarfilmerin Amal Ramsis, die sich in ihrer Arbeit mit den Folgen des politischen Umsturzes beschäftigt.
Rund um die Moschee von Rabia al-Adawija, im nahe der Flughafenautobahn gelegenen Nasr City, auf den Zufahrtsstraßen zur Universität und in Shubra, wo viele Christen wohnen: In Kairo haben die Waffen gesprochen. Sechs Wochen nach Ende der Mursi-Herrschaft ist ein knallharter blutiger Machtkampf zwischen Militärregierung und Islamisten ausgebrochen.

"Ich lebe und arbeite hier im Zentrum von Kairo in einer von der Ideologie der Muslimbruderschaft befreiten Zone. Ich habe weniger Probleme. Aber in Stadtteilen mit hoher Bevölkerungsdichte ist es sehr gefährlich. Genauso auch in vielen anderen Städten."

Die koptische Dokumentarfilmerin Amal Ramsis hat die Revolution und die darauf folgenden Machtwechsel hautnah miterlebt.

"Ich filme auf der Straße und jeder weiß, dass ich das Militärregime und die Muslimbruderschaft kritisiere."

Ramsis unterstützt die Proteste gegen Militärs und Islamisten
Wie Millionen von ägyptischen Frauen auch unterstützt sie die sozialen Proteste für Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit - gegen Militärs, gegen die alten Mubarak-treuen Eliten und gegen das islamistische Regime Mursis.

"Mursis Leute reden vom Marsch der Millionen. Davon kann zwar nicht die Rede sein. Aber es gibt größere Gruppen, die Aggression predigend durchs Land ziehen und Kopten und Muslime gegeneinander aufhetzen. Ich war dabei, als in Kairo einer meiner Freunde aus dem Hinterhalt erschossen wurde. Bereits vor Mursi haben die Muslimbrüder bewaffnete Milizen gebildet. Angeblich um sich zu schützen."

Bereits vor der Verhängung des Ausnahmezustands hatten Rebellen der Tamarud-Bewegung - also der Mursi-Gegner - dafür gesorgt, dass im Zentrum rund um den Tahrir-Freiheitsplatz keine Islamisten mehr durchgelassen werden. Amal Ramsis:

"33 Millionen Menschen sind gegen Mursi und die Muslimbruderschaft auf die Straße gegangen, weit mehr also als in den Tagen des Zorns gegen Mubarak im Januar 2011."

In den ersten Tagen der Revolution hatten die Muslimbrüder kurz ihre Berührungsängste mit den Säkularisten, wie Linksintellektuelle und Liberale in Ägypten genannt werden, aufgegeben. Danach verschwanden sie von der Straße.

"Wir haben untersuchen lassen, was sich bei unseren Kundgebungen gegen die Mursi-Regierung auf dem Tahrir-Platz abgespielt hat, als dort plötzlich Frauen sexuell belästigt wurden. Die Untersuchung ergab, dass an einer Stelle bewaffnete Gruppen organisiert Frauen attackiert haben. Laut Augenzeugen wurden sie von der Muslimbruderschaft dazu angestiftet. Ob Parteimitglieder darunter waren, wissen wir nicht."

Wie alle Ägypter sind auch die Anhänger Mursis von den letzten Gewaltexzessen geschockt. Bei ihren Protesten halten sie Bildtafeln mit den Gesichtern ihrer Märtyrer hoch. Vor wenigen Tagen noch schwenkten im Zentrum Kairos Tamarud-Rebellen die schwarz-weiß-rote ägyptische Landesfahne. Sie war zum Symbol der Mursi-Gegner geworden. Für die Dokumentarfilmemacherin Amal Ramsis sind das Belege für eine unüberbrückbare Spaltung des Landes:

"Kairo ist geteilt. Meine Mutter lebt in einem Viertel, in dem sich Muslimbrüder verschanzt haben. Wochenlang haben sie die Anwohner terrorisiert. Man fand in der Nähe ihres Protestcamps die Leichen von Leuten aus der Nachbarschaft. Ihre Körper zeigten Folterspuren. Ich kann meine Mutter nicht besuchen, weil ich Angst vor den bewaffneten Muslimbrüdern habe. Es ist immer noch zu gefährlich."

Den Ägyptern geht die Kraft für Revolutionen aus
Nutznießer der instabilen Lage sind die Feloul, also die Anhänger des alten Mubarak-Regimes. Sie könnten davon profitieren, dass den Ägyptern die Kraft für Revolutionen ausgeht. Momentan hat eine bleierne Stimmung viele Intellektuelle erfasst. Sie fühlen sich vom Westen allein gelassen. Die Muslimbrüder, die als einzige nicht in der Übergangsregierung vertreten sind, treiben im Verein mit Tausenden arbeitslosen und verarmten jungen Leuten die Gewalt weiter an. Den Hass der Menschen könnten sie überhaupt nicht verstehen. So viel Gutes habe man doch für das Land getan.

"Sie haben Zeitungen, Filme und Theaterstücke verboten. Schriftsteller mit Schreibverbot belegt. Den Bestand der Bibliotheken bis auf wenige islamistischen Inhalts dezimiert. Das ägyptische Pfund verlor ein Drittel seines Wertes. Der Tourismus ist total eingebrochen. Streikende Arbeiter wurden von Heckenschützen erschossen. Alle öffentliche Einrichtungen mit Mursi-Getreuen besetzt. Leute, die der Ideologie der Islamisten nahestehen, aber keine Ahnung von Kulturarbeit haben, saßen plötzlich im Ministerium für Kultur."

Über eigene Fehler wollen die Anhänger Mursis nicht reden. Sie glauben, dass der islamische Charakter Ägyptens gefährdet sei, wenn die Säkularisten zu stark würden. Selbst die fundamentalistischen Salafisten hatten der Muslimbruderschaft den Rücken zugekehrt und arbeiten in der Übergangsregierung mit.

"Die Übergangsregierung unter Bablawi und Baradei ist ein positiver Neuanfang. Muslime und Kopten haben zum ersten Mal politische Mitsprache. Aber unser Modell von Demokratie ist nicht mit dem westlichen kompatibel. Millionen verarmter Menschen sind der Nährboden für islamistischen Faschismus. Die Salafisten haben zum Beispiel verhindert, dass nicht fünf Ministerinnen, sondern nur drei Frauen in der Regierung vertreten sind."

Nur fünf Frauen sind in der Regierung vertreten
Die Koalitionsregierung ist ein Novum in der jüngeren Geschichte Ägyptens. Doch aus westlicher Sicht gleichen sozialer Wandel und Aufbau eines Rechtsstaats in einer Militärgesellschaft einer Quadratur des Kreises. Die Zerstörungskampagne der Muslimbrüder mit Racheaktionen an der christlichen Bevölkerung hat die Kopten hart getroffen. Ein Exodus könnte die Folge sein.

"Unter Mursi war es für die Christen sehr gefährlich. Kurz nach dem 30. Juni wurden zwei koptische Priester ermordet. Im Süden haben islamistische Milizen gegen Christen gehetzt. Kirchen wurden niedergebrannt. Bewohner aus den Dörfern getötet oder vertrieben. Es ist eine ganz neue Qualität von Gewalt. Daher haben auch so viele das Land verlassen."

Die Anhänger Mursis warnen dagegen vor Armeechef Sisi und seinen Generälen, die das Land in eine brutale Militär-Junta verwandeln würden. Die zivilgesellschaftlichen Akteure seien an den Rand gedrängt. Die USA hielten in Ägypten eine Militärgesellschaft am Leben. Trotz dieser Akzentverschiebung will die Dokumentarfilmerin Amal Ramsis den Islamisten und der Armee nicht das Feld überlassen:

"Trotzdem glaube ich, dass die Militärs ihre Lektion gelernt haben, dass sie ohne uns Ägypter nicht durchregieren können. Die Bevölkerung ist aufgestanden gegen eine religiöse Splitterpartei, die durch Wahlbetrug an die Macht gekommen ist und das Land ein Jahr lang im Würgegriff gehalten hat. Ich bin nicht jemand, der irgendeiner Armee viel Vertrauen schenken würde. Aber in drei Jahren habe ich gelernt, den Menschen zu vertrauen."

Amal Ramsis stellt gerade ihren aktuellen Dokumentarfilm fertig. Er heißt "Wendepunkt". Die Lebensgeschichte einer Ägypterin, deren Bruder vor zwei Jahren von Militärs ermordet wurde. Das war 2011, kurz nach Ausbruch der Revolution. Ob der Film wie geplant im nächsten Jahr in die Kairoer Kinos kommt, kann im Ägypten der Gegenwart niemand beantworten.