Inmitten von Chaos blitzt Schönheit auf

10.05.2011
Der neapolitanische Schriftsteller Domenico Rea begibt sich meistens nachts auf Wanderschaft durch seine Stadt. Dann versiegt der Verkehr, dann hört man das Meer rauschen, und dann gewährt die einst so glanzvolle und mittlerweile verwahrloste Metropole ungeahnte Einblicke.
Neapel ist ein riesiger, dunkler Bauch. Eine Höhle mit überraschenden Schlupfwinkeln, ein Ort, wo sich verschiedene gesellschaftliche Sphären dauernd mischen. Schutt, Abfall und Verwahrlosung drohen alles zu ersticken, aber die Bewohner gehen stoisch ihren Beschäftigungen nach, und inmitten von Chaos blitzt plötzlich Schönheit auf.

Es passt, dass sich der neapolitanische Schriftsteller Domenico Rea in Begleitung zweier Freunde meistens nachts auf Wanderschaft durch seine Stadt begibt. Dann versiegt der Verkehr, dann hört man das Meer rauschen, und dann gewährt die einst so glanzvolle und mittlerweile verwahrloste Metropole ungeahnte Einblicke. Rea, 1921 geboren und in Italien ein Klassiker, umkreist in wunderbar beiläufigen Feuilletons, die unter dem Titel "Neapel zwischen Nacht und Morgengrauen" jetzt zum ersten Mal auf Deutsch erscheinen, die Eigenarten seiner Heimat.

Das Zufällige macht den Charme der Texte aus. Einmal steht ein Bäcker im Mittelpunkt, ein stolzer Handwerker, der zwei Kriege miterlebt hat und auf seine alten Tage von einem bewaffneten Jugendlichen ausgeraubt wird. Eine Schande sei das, tobt der Mann und entscheidet, beim nächsten Überfall kurzen Prozess zu machen, schließlich könne er schießen.

Ein anderes Mal schildert der Spaziergänger die Marotte seines Begleiters Professor Broell, verarmter Abkömmling einer adligen Familie. Trotz seiner beschränkten Mittel besteht Broell darauf, sich standesgemäß zu kleiden. Anzüge werden selbstverständlich maßgeschneidert. Sportjacketts dürfen nur einen einzigen Knopf haben, und bei Hemden muss der vorletzte Knopf so angenäht sein, dass man ihn bequem zur Befestigung eines Halstuchs benutzen kann. Früher hätten Prinzen und Könige in Neapel Kleidung anfertigen lassen, aber damit sei es lange vorbei.

Rea, in seiner Heimat nur Don Mimì genannt, beschwört immer wieder die Erinnerung an die alte Pracht herauf. Dennoch ist er nie sentimental, sondern pflegt eine verschmitzte Ironie. Die ursprüngliche Vitalität der Stadt hat sich vor allem in ihren Bewohnern abgelagert: in der etwas schmuddeligen Donna Rufinella, dem wehrhaften Bäckermeister oder dem prächtigen Mannsbild Pasqualino, der seine Tage am Strand vertrödelt. Als Professor Boell eines Tages beschließt, Neapel den Rücken zu kehren, ist der Abschied von kurzer Dauer: Er braucht die Stadt in all ihrer Widerborstigkeit wie die Luft zum Atmen.

Für den Verfasser dieser hin getupften Gelegenheitstexte, die in den 80er-Jahren für die Tageszeitung "Il mattino" entstanden, gilt dasselbe: Domenico Rea ist ohne Neapel nicht denkbar. Für ihn, der in der Provinz in einfachsten Verhältnissen aufgewachsen war, bedeutete die Entdeckung Neapels die Entdeckung der Welt. Mit Genuss pflegte er seine exzentrischen Seiten und stellte sich gern für Fotoreportagen zur Verfügung. Seine Herkunft vergaß Don Mimì allerdings nie.

Vor allem seine sehr erfolgreichen Bücher "Spaccanapoli" (1947) und "Die plebejische Nymphe" (1992) haben die volkstümliche Seite Neapels erfasst. Trotz einer Neigung zu barocken Ausschmückungen und plastischen Schilderungen hütet er sich vor allzu pittoresken Elementen, was ihn zu einem schlichten Nachahmer des berühmten Dramatikers Edoardo De Filippo gemacht hätte, noch verfällt er in den grellen Hyperrealismus von Malaparte.

Auch in seinen Feuilletons gelingt es ihm, die Stadt jenseits der üblichen Mandolinen-Pizza-Klischees zu erforschen. Rea, der bis zu seiner Anstellung beim staatlichen Rundfunk RAI jahrelang mit bitterer Armut kämpfte und 1994 verstarb, verdankt seine literarische Initiation einem Wörterbuch, das er während einer langen Rekonvaleszenz als Vierzehnjähriger in die Hände bekam. Eine Art kleines neapolitanisches Vokabelheft hat Rea auch mit seinen Feuilletons geschaffen. Er lauscht Neapel Geschichten ab.

Besprochen von Maike Albath

Domenico Rea: "Neapel zwischen Nacht und Morgengrauen".
Aus dem Italienischen übersetzt von Anna Leube und Victoria Leube-Dasch,
Carl Hanser Verlag,
München 2011,
142 Seiten,
14, 90 Euro.
Mehr zum Thema