Inklusion ernst gemeint

Von Susanne Lettenbauer · 18.12.2012
Derzeit wird viel über Inklusion an Schulen gesprochen. Dabei geht es vor allem um Kinder, die an einer Regelschule trotz Behinderung lernen können. Doch Inklusion meint auch Lehrer, davon ist die Montessorischule Biberkor bei Starnberg überzeugt. In den Reihen ihrer Lehrkräfte finden sich viele Quereinsteiger, darunter Tobias Wolf, ein Lehrer mit Down-Syndrom.
Lärmend stürmen die Kinder über den Flur, schütteln den Schnee aus den Haaren, zerren sich die Stiefel von den Füßen. Drinnen im Klassenzimmer der Klasse 3 steht Tobias Wolf am Fenster, Deutschlands einziger Lehrer mit Down Syndrom. Leise lächelt er über den ganzen Schnee auf dem Fußboden. In der Hand hält er die Strickmütze, über dem Stuhl am Lehrertisch hängt die schneenasse Jacke. Bedächtig geht der 33-Jährige zu einer riesigen schwarzen Sporttasche, schüttelt langsam das Tauwasser ab und holt vorsichtig zwei tragbare CD-Player heraus.

Dann greift er noch einmal in die Sporttasche, holt einige CDs mit Computer geschriebenem englischem Aufdruck heraus, drei dicke Stapel A4-Arbeitsblätter und einen bunten Nikolausschlitten aus Papier. Wolf setzt den Schlitten auf den Lehrertisch, korrigiert noch einmal dessen Stellung und lächelt. Daneben legt er bunte Kärtchen mit der Aufschrift Reindeer-Rentier, house-Haus, lots of - viele, einige. Rote Kärtchen neben rote, darunter blaue Kärtchen neben blaue, darunter grüne neben grüne. Alle eigenhändig laminiert.

Die Schüler sausen mit ihren Hausschuhen in den Klassenraum, jubeln kurz als sie ihren Lehrer sehen und setzen sich langsam auf ihre Stühle. Leise reden sie über den bunten Nikolausschlitten. Warten auf den Beginn der Englischstunde und summen das Lied, das sie letztes Mal bei Lehrer Wolf gelernt haben: Apples and Bananas.

Tobias Wolf hat ein Mikrofon an den CD-Player angeschlossen. Immer wieder prüft er den Verstärker, pustet in das Mikrofon, klopft auf den Player. Dann knackt es endlich im Gerät, die Aufregung legt sich und der Englischlehrer schaut seine Schüler herausfordernd an:

Der kleine Mann bückt sich zum CD-Player, drückt die Play-Taste, singt laut mit, steppt übermütig mit den Füssen:

Nach drei Strophen ruft er laut den ersten Schüler auf, nach vorne zu kommen:

Mit den Fingern zeigt Wolf auf die Vokabelkärtchen, spricht die englischen Worte vor. Geduldig korrigiert er die Fehler in der Aussprache des Schülers, schickt ihn auf seinen Platz, ruft den nächsten auf. Ein Schüler, ein Wortpaar. Manchmal kommt auch bei ihm ein Begriff nicht so schnell, dann wartet er kurz, legt den Kopf schief, überlegt. Nach kurzer Zeit fällt er ihm dann meist wieder ein.

Inzwischen haben die Schüler ein Arbeitsblatt ausgemalt, das Lied beginnt von vorn. Dieses Mal singen die Kinder schon lauter mit:

"Immer mit einem neuen Song und mit neuen Wortkarten, so mache ich das."
"Die machen das schon sehr gut. Wenn ich denen ein Englischlied beibringe mit den Wortkarten, dann mit dem Textausteilen, dem Anmalen und den Wörter verbinden - die machen das echt super."

Der Lehrer reicht das zweite Arbeitsblatt zum Ausmalen herum, auch Schulleiterin Katrein Wilms-Wöltje und die Journalistin in der Schulbank bekommen eins.
Wolf leidet seit seiner Kindheit unter Trisomie 21. Trotz des Down-Syndroms hat der heute 33-Jährige die Arbeitsvorlagen selbst entwickelt ebenso die Lied-CDs, die er mit seiner eigen Firma vertreibt. Respektvoll schaut ihn die Schulleiterin an:

"Wir sind eine inklusive Schule und das ist ja nicht nur eine Art Schule zu denken, sondern Gesellschaft zu denken und da hört Inklusion ja nicht in der Schule auf, sondern geht darüber hinaus. Wenn man das tatsächlich ernst nimmt bedeutet das eine ganze Menge: Wenn Herr Wolf hier unterrichtet lernen die Kinder von ihm zu lernen, was er geben kann, was andere Lehrer vielleicht nicht geben können."

Die farbigen Vokabelkärtchen liegen zum Schluss wie Memory-Karten verdeckt am Boden. Die Kinder knien davor und warten auf das Kommando. Wieder kommt Jedes der Reihe nach dran. Gerechtigkeit - darauf achtet Tobias Wolf penibel.

Anderthalb Stunden vergehen, dann lässt die Konzentration bei Lehrer und Schülern allmählich nach. Drei Arbeitsblätter sind ausgefüllt und bunt angemalt. Als Hausaufgabe sollen die Blätter ausgeschnitten und ins Englischheft geklebt werden. Einige Kinder beginnen noch vor Unterrichtsschluss mit dem Schneiden und Kleben:

"Voll cool."
"Also mir gefällt er sehr gut. Ich freue mich schon immer aufs Englisch. Der bastelt auch viel und macht viel mit uns. der hat ein Lächeln auf der Stirn. Der lächelt immer."

Draußen vor dem Fenster fallen langsam die Schneeflocken. Ein letztes Mal spielt der Recorder das Lied vom Rentier. Lehrer Tobias Wolf lächelt stolz, die Kinder singen jetzt laut mit.