Inklusion auf dem Prüfstand

Wie Eltern für Förderschulen kämpfen

Von Anna Corves · 26.11.2014
Kevin ist zwölf Jahre alt und leidet an einer Sprachstörung. Obwohl er den Deutsch-Unterricht hasst, geht Kevin gerne zur Schule - zumindest seitdem er eine Förderschule besucht. Von Inklusion hält seine Mutter deshalb nichts.
Kevin Knuth beugt sich tief über sein Lesebuch, die halblangen blonden Strähnen fallen ihm ins Gesicht. Mühsam formt sein Mund die Silben der Wörter, aber er gibt nicht auf, blickt mit seinen großen blauen Augen immer wieder hoch zu Klassenlehrerin Anja Heinrich, die ihm ermunternd zunickt. Deutsch ist gar nicht Kevins Ding - obwohl er gerne zur Schule geht.
Autorin: "Was magste am meisten in der Schule?"
Kevin: "Mathe. Deutsch nicht, ich hasse Lesen."
Autorin: "Du hasst Lesen?"
Kevin: "Ja."
Die Aufgaben, mit denen er kämpft, richten sich eigentlich an Erst- oder Zweitklässler - Kevin ist aber zwölf Jahre alt. Neben der Sprachstörung wurde ihm eine verminderte Intelligenz attestiert - genau wie den sieben anderen Jungen und Mädchen in seiner Klasse, an der "Schule am Pappelhof" in Berlin-Marzahn, einer Förderschule für geistige Entwicklung.
"Wir haben individuelle Hofpausenzeiten"
Nach 20 Minuten ist die Ausdauer der Schüler erschöpft. Anja Heinrich öffnet die Tür, die zum Schulhof führt. Der bietet einen Spielplatz, einen Mini-Teich und ein Fußballfeld, auf das Kevin gleich zurennt. Ein ganz normaler Junge, seine Behinderung sieht man ihm nicht an. Eine Schulstunde von 45 Minuten halten ihre Schüler aber nicht durch, sagt die Lehrerin - und das müssen sie auch nicht:
"Kevin kommt dann auch mal an seine Grenze und sagt: 'Puh, ich kann nicht mehr.' Wir können gucken, wie sind die Kinder gerade drauf, wie konzentriert sind sie - wir haben individuelle Hofpausenzeiten. Also da können wir wirklich flexibel drauf eingehen."
Wir - das sind neben Anja Heinrich zwei weitere Frauen: Eine von ihnen unterstützt sie im Unterricht, die zweite kümmert sich um Annabel, ein Mädchen mit roten Haaren und Sommersprossen, das im Rollstuhl sitzt und gerade gefüttert wird.
Annabel hat einen Sprechcomputer vor sich - nur damit und über Blicke kann sie sich verständigen. Kevin kommt zu ihr und drückt Annabels Hand - beide strahlen. Lehrerin Anja Heinrich beobachtet die Szene. Kevin hat zu allen Kindern einen guten Draht, sagt sie, er ist aufgeschlossen. Anders als früher:
"Also er kam als ängstlicher Schüler hierher, war sehr zurückgezogen. Da ist er kaum aus sich rausgegangen, hat nichts gesagt, man musste ihn halt so ein bißchen kitzeln..."
"Dann haben sie gesehen, er ist ein leichtes Opfer"
Kevins Mutter erinnert sich gut, aber ungern an diese Zeit. Karola Knuth wartet pünktlich zum Schulschluss um 15 Uhr vor der Pforte. Sie machen sich auf den Weg zum Spielplatz, später steht noch Logopädie auf dem Programm.
Kevin erzählt wie ein Wasserfall, seine Mutter versteht ihn dank jahrelanger Übung. Das mit dem Sprechen sei auch viel besser geworden, erzählt Karola Knuth. Auf der Förderschule kümmerten sich alle Lehrer sehr - das war auf der Grundschule für nicht-behinderte Kinder, die Kevin zuvor besucht hat, ganz anders:
"Da ist er eigentlich komplett untergegangen, er wollte nicht mehr. Normalerweise hat er ne Bereitschaft: Er will lernen, er will eigentlich weiterkommen. Und da in der Schule hat er komplett aufgegeben. Zum Schluss sagt er: 'Was soll ich eigentlich in der Schule?'"
Die meiste Zeit über sollte Kevin Bildchen ausmalen. Die Lehrerin war überfordert mit den 25 Kindern in der Klasse, von denen noch weitere vier besonders betreuungsintensiv waren. Auf dem Spielplatz guckt Kevin jetzt den anderen Kindern zu. Er spielt lieber alleine, hält Abstand. Diese Angst hat er in der früheren Grundschule aufgebaut, sagt seine Mutter:
"Einige normale Kinder haben ihm versucht zu helfen. Dann fing es aber an, dass sie ihn nicht verstanden haben. Dann haben sie ihn gemobbt. Dann haben sie gesehen, er ist ein leichtes Opfer."
"Kein Lehrer hat mir geholfen"
Kevin macht eine Pause, holt sich bei seiner Mutter was zu trinken ab. Angesprochen auf seine alte Schule, schüttelt Kevin sofort heftig den Kopf. Nie wieder will er da hin.
Kevin: "Doof. Die anderen Kinder ärgern mich, hauen mich."
Autorin: "Die haben dich gehauen?"
Kevin: "Mhm. Hauen mich. Kein Lehrer hat mir geholfen."
Seine Mutter nickt. Aufgelauert hatten ihm die Kinder, die Lehrer nichts mitbekommen. Seitdem wollte Kevin morgens nicht mehr aufstehen.
"War ne Qual! Wenn er die Schule nur gesehen hat, hat er zum Schluss Schweißausbrüche gehabt. Und Magenkrämpfe, hat gesagt, er hat Bauchschmerzen, er kann nicht zur Schule."
Inklusion? "Die Lehrer sind nicht reif dafür"
Ein halbes Jahr lang hat sie darum gekämpft, dass Kevin einen Platz in der Förderschule bekommt. Beim Stichwort Inklusion verdreht Karola Knuth die Augen.
"Aber doch noch nicht jetzt, wenn die Lehrer noch nicht reif dazu sind! Die Lehrer sind doch nicht reif dafür, ich hab's doch gesehen! Sagen: Ok, ich weiß jetzt nicht, was ich mit dem Kind anstellen soll, soll er lieber malen, Hauptsache, er sitzt in der Schule. Das kann doch nicht sein!"
Auf der Förderschule ist Kevin aufgeblüht - dass jetzt Förderschulen wegen der Inklusion geschlossen werden, beobachtet Karola Knuth mit Sorge.
"Ich bin eine der ersten, die streiken. Ich gehe auf die Barrikaden. Und würde überall hinschreiben, damit diese Schulen offen bleiben."
Denn Kevins jüngerer Bruder ist jetzt vier Jahre alt - und zeigt die ersten Symptome, dass er Kevins Behinderung teilt.
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