Initiative „Meet a Rabbi"

"Eine starke Gesellschaft schützt ihre Schwachen"

11:19 Minuten
Der Rabbiner Julian Chaim Soussan steht an einer Wand gelehnt in der Mainzer Synagoge im November 2012.
Gemeinsamkeiten entdecken, Unterschiede respektieren: Rabbiner Julian-Chaim Soussan spricht mit Schülerinnen und Schülern über jüdisches Leben in Deutschland. © imago images / epd
Rabbiner Julian-Chaim Soussan im Gespräch mit Thorsten Jabs · 25.08.2019
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Antisemitische Übergriffe machen seit Wochen negative Schlagzeilen. In Hessen soll das Projekt „Meet a Rabbi“ diesen Tendenzen entgegenwirken. Rabbiner gehen in Schulen, um über jüdisches Leben ins Gespräch zu kommen.
Thorsten Jabs: Antisemitismus ist in Deutschland leider wieder ein Thema geworden, über das heftig diskutiert wird. Gerade in den vergangenen Wochen sorgten Vorfälle in Berlin, Hamburg und München für Aufsehen – Vertreter jüdischer Gemeinden wurden beschimpft und bespuckt. Viele Menschen fragen sich: Was ist los in diesem Land? Hat die Geschichte des Nationalsozialismus nichts gelehrt? Ist die Erinnerung an den Holocaust schon verblasst?
Und natürlich wird immer wieder die Frage gestellt: Was kann man gegen solche aktuellen Tendenzen wie antisemitische Übergriffe tun? In Hessen hat der Antisemitismus-Beauftragte des Landes, Uwe Becker, gemeinsam mit zwei Rabbinern das Projekt "Meet a Rabbi" gestartet. Dabei sollen Schülerinnen und Schüler mit Rabbinern über das Judentum und dessen Tradition sprechen, um mehr über jüdisches Leben zu erfahren.
Einer der beiden Rabbiner ist Julien Chaim Soussan von der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main, den ich ganz herzlich begrüße. Guten Tag, Herr Soussan!
Julien Chaim Soussan: Guten Tag, Herr Jabs!

Synagogenführungen für Jugendliche und Erwachsene

Jabs: Herr Soussan, haben sich schon viele Schulen bei Ihnen gemeldet oder Sie eingeladen?
Soussan: Ja, es gibt tatsächlich auch im Vorfeld immer wieder Schulen, die engagiert sind, die sich von sich aus gemeldet haben und in die Synagoge kommen. Wir hatten zum Beispiel im Jahr 2018 über 4000 Menschen in der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt, die an Synagogenführungen teilgenommen haben.
Jabs: Welche Altersklassen sind das dann?
Soussan: Da ist alles mit dabei. Das sind Schulklassen, das fängt in der Sekundarstufe I an, ab der siebten Klasse, in der Regel sechste, siebte, und dann geht das nach oben bis zum Abitur. Aber wir haben auch viele Erwachsenengruppen, wir haben sowohl politische Vertreter als eben auch Religionsvertreter und einfach auch interessierte Menschen, die sich zu Gruppen zusammenfinden.

Lehrer fühlen sich überfordert von antisemitischen Pöbeleien

Jabs: Welche Erfahrungen haben Sie gemacht im Alltag, wurden Sie schon einmal auf der Straße bepöbelt oder bespuckt?
Soussan: Ich hab das Gegenteilige erlebt. Ich bin in Deutschland aufgewachsen, ich habe ein großes nicht-jüdisches Umfeld, und auf der Straße gehe ich immer mit der Kippa. Ich werde häufig angesprochen, auch von offensichtlich nicht-jüdischen Menschen – die meisten jüdischen Gemeindemitglieder kenne ich oder sie würden sich zu erkennen geben –, die mich auf der Straße einfach mit "Schalom" grüßen.
Ich hab es gerade erst vor ein paar Wochen erlebt, dass ich draußen sitze und ein Herr – Anfang 50 vielleicht – zu mir kommt und sagt: Vielen Dank, dass Sie eine Kippa tragen, es darf in Deutschland keine Kippa-freien Zonen geben.
Also, ich persönlich habe sehr viele positive Erfahrungen in dem Zusammenhang. Ich erlebe aber als Rabbiner eben auch, dass andere von negativen Erfahrungen berichten – seien es Schüler, Eltern, Bekannte von mir oder Kollegen, Rabbiner aus anderen Städten. "Der Jude" als Schimpfwort auf dem Schulhof, Pöbeleien, antisemitische Aussagen, häufig dann eben auch Lehrer, die sich überfordert fühlen, die versuchen, das herunterzuspielen und die das dann vergleichen mit irgendwelchen anderen, ich sag mal, Hänseleien oder Beleidigungen.
Nein, da darf man nicht wegschauen, das darf man nicht runterspielen, Antisemitismus ist wirklich so gravierend, dass man immer sofort reagieren muss.

Juden und Muslime: Gemeinsamkeiten auf den zweiten Blick

Jabs: Reagieren ist das richtige Stichwort, und auch das Wort Jude als Schimpfwort hat sich ja sehr weit verbreitet unter Jugendlichen. Haben Sie da mit Jugendlichen schon mal drüber gesprochen?
Soussan: Das Gespräch mit Schülern ist zunächst einmal ein Gespräch über das Judentum. Was ich versuche, ist eben, Judentum nicht vom Antisemitismus her aufzurollen, sondern als gelebtes Judentum, als gegenwärtig, als präsent, als Teil der Gesellschaft zu zeigen, sowohl historisch gewachsen als eben auch ganz aktuell. Der Antisemitismus-Beauftragte ist ja auch Beauftragter für jüdisches Leben in Hessen.
Und das ist das, was wir eigentlich zeigen wollen: Es gibt ein jüdisches Leben, und dieses jüdische Leben ist weder geheim noch gefährlich noch bedrohlich.
Wenn wir damit anfangen, dann hat man, glaube ich, schon ganz viel gewonnen. Ich erlebe das auch häufig gerade bei muslimischen Kindern, die in der Klasse mit dabei sind, die am Anfang vielleicht so ein bisschen skeptisch schauen und dann im Laufe der Zeit das Gefühl bekommen, dass da ganz viele Ähnlichkeiten innerhalb der Religionen sind, dass wir an viele Regeln glauben oder versuchen, uns daran zu halten, die ihnen bekannt vorkommen, und dass wir häufig gerade auch in der öffentlichen Diskussion ähnliche Probleme haben, die uns eigentlich eher zusammenbringen sollten als auseinander.
Am Ende kommt dann aber auch immer wieder – auch in der Diskussion und in der Unterhaltung, die dann geführt wird – das Gespräch auf Antisemitismus und dass dieser Antisemitismus immer eigentlich auch ein Angriff auf jeden Einzelnen darstellen muss. Dass man es so empfinden muss, dass jeder Mensch eine Würde hat, eine Würde auch im Anderssein. Und jeder ist anders.
Und dieses Anderssein dann negativ zu belegen, ist so unsinnig und so gesellschaftsstörend, dass eigentlich jeder darauf kommen sollte, dass Antisemitismus letztendlich immer einen Angriff auf sich selbst darstellt.

Viele Muslime aus Nahost sind antijüdisch aufgewachsen

Jabs: Welchen Einfluss auf die Entwicklung hat aus Ihrer Sicht die Flüchtlingswelle in der deutschen Gesellschaft? Schließlich kommen ja viele Migranten aus muslimischen Ländern.
Soussan: Ja, auch da gilt es, mit zweierlei Augen hinzuschauen. Das eine ist, dass wir als jüdische Gemeinschaft natürlich auch den Flüchtlingen Verständnis entgegenbringen, dass wir selbstverständlich auch die Situation umgekehrt kennen, wenn man nicht weiß wohin – aus einem gefährlichen Krisengebiet, aus einem Kriegsgebiet oder aus einem Gebiet, wo es einfach für die eigene Person, für den Menschen bedrohlich ist, wegkommen muss und möchte und dann nicht weiß wohin. Und deshalb gilt erst mal eine Willkommenspolitik für Menschen in Not.
Das Zweite ist, dass wir auch deutlich sehen müssen, dass viele Länder, viele muslimisch geprägte Länder aufwachsen in einem Antijudaismus, der eine Selbstverständlichkeit darstellt und der in vielen Fällen ein Teil der gesellschaftlichen Norm ist, sodass sie das, was wir hier Gott sei Dank mittlerweile haben, nämlich eine deutliche Rücksichtnahme, eine No-Go-, auch verbale Zone, was gar nicht geht, dass sie das erst lernen müssen.
Ich glaube, wir sollten aber auch ein bisschen Geduld haben und eben alles daran setzen, dass dieses, was ja auch hier in Deutschland ein Ergebnis auch der Schoah ist, ein zumindest Bewusstsein, dass Antisemitismus etwas Schlechtes ist, dass das erlernt werden muss.
Jabs: Sind Sie dafür, wenn es um Bildung geht, auch bestimmte Dinge zur Pflicht zu machen, also zum Beispiel den Besuch in einem Konzentrationslager?
Soussan: Ja, ich glaube, dass es bestimmte Dinge gibt, die man lernen muss. Also die schiere Tatsache, dass irgendwas mal in der Vergangenheit passiert ist, scheint für viele Jugendliche schon kein Thema mehr zu sein oder so weit weg wie irgendetwas, das man halt von der Geschichte lernt.
Und deshalb glaube ich, dass ein Besuch in einem Konzentrationslager sicherlich helfen kann und sicherlich sinnvoll ist, um diese Gräueltat zu vergegenwärtigen, also gegenwärtig zu machen, sich vor Augen zu führen, was passiert, wenn man eben nicht rechtzeitig die Handbremse zieht.

Rituelles Schächten: Steht Tierwohl über religiöser Freiheit?

Jabs: Ein Thema, das gerade aufgetaucht ist, betrifft Juden und Muslime gleichermaßen. Vor Kurzem hat die CDU in Niedersachsen ein Verbot des Schächtens, also des rituellen Schlachtens von Tieren gefordert, wie es in Belgien, in Flandern, seit dem 1. Januar verboten ist und ab dem 1. September auch in der Region Wallonien verboten sein wird. Begründet wird das mit dem Tierwohl, weil den Tieren ohne Betäubung die Halsschlagader aufgeschnitten wird, damit sie ausbluten.
Können Sie die Begründung mit dem Tierwohl nachvollziehen, oder sind das aus Ihrer Sicht Tendenzen, die die Religionsfreiheit einschränken – von Juden und Muslimen?
Soussan: Es ist äußert bedauerlich, dass wir, nachdem wir ja schon längst eine europäische Gesetzgebung haben und eine deutsche Gesetzgebung haben, und nachdem das Ganze auch schon vor dem Verfassungsgericht beurteilt wurde, dass es jetzt schon wieder einen Vorstoß gibt. Das ermüdet mich ein wenig. Es ist traurig, dass so etwas passiert.
Wir haben ganz klare Gesetzgebungen, wir sprechen von einem minimalen Anteil von Tieren im Verhältnis zu den Tieren, die geschlachtet werden pro Jahr in Deutschland und wo leider eben auch die betäubte Schlachtung nicht immer funktioniert. Es sind ja wirklich nur Ausnahmeregelungen, und die sind per se aus meiner Sicht auch wichtig und richtig, da geht die Religion vor.
Es gibt im Judentum und auch im Islam unglaublich viele Gesetze, die das Tier schützen, ich glaube, dass aber die Debatte um ein Schächtverbot immer offensichtlich politisch motiviert ist. Deshalb ist es schade, dass ausgerechnet eine Partei, die sich ansonsten nicht nur lautstark für das Judentum einsetzt oder auch für Flüchtlinge, sondern das tatsächlich auch in der Praxis in der Regel so hält, es ist schade, dass dann ein solcher Einbruch kommt, aus meiner Sicht.
Die Politik muss vorangehen, muss Vorbild sein für die Gesellschaft, damit eben klar ist: Bestimmte Dinge kann man tun, kann man versuchen durchzusetzen, und andere Dinge sollte man tunlichst vermeiden, wenn man nicht Stimmung machen will gegen einzelne Minderheiten hier in unserem Land.
Jabs: Könnte sich denn in dieser Frage sogar eine jüdisch-muslimische Allianz bilden, weil man gleiche Interessen hat und das auch die Gemeinsamkeiten stärker herausstellt?
Soussan: Da bin ich ganz sicher, das ist in der Vergangenheit auch schon häufig passiert. Diesen Schulterschluss, den Sie gerade ansprechen, gab es ja auch in der Beschneidungsdebatte, wo wir gemeinsam dann aufgetreten sind und gesagt haben, es gibt bestimmte Grenzen – Tierwohl in allen Ehren –, aber es geht hier um die Freiheit der Ausübung der Religion, das muss dann natürlich Vorrang haben, dass Menschen hier ihre Religion frei ausüben dürfen.

Kopftuch oder Kippa: Respekt für Unterschiede stärken

Jabs: Und ist das dann auch etwas, was vielleicht in der Diskussion mit Jugendlichen helfen kann, zum Beispiel mit muslimischen Jugendlichen, also seht her, im Alltag haben wir die gleichen Probleme?
Soussan: Bei den Diskussionen, die ich führe mit Schulklassen oder eben auch mit muslimischen Jugendlichen, stellen wir immer wieder fest, dass wir eben Ähnlichkeiten haben. Das ist beim Schächten so, das ist bei der Beschneidung so, das ist aber interessanterweise auch beim Kopftuch so.
Während muslimische Mädchen Kopftücher tragen, verheiratete orthodox-jüdische Frauen tun das auch, ich selber trage eine Kopfbedeckung, also die Kippa – also es werden dann immer wieder Ähnlichkeiten deutlich, wo man sagt, da sind wir eben anders als die Mehrheitsgesellschaft, und ich glaube, das ist gut so. Ein Orchester besteht ja auch aus unterschiedlichen Musikern, und wir würden nicht ein Orchester haben wollen, das, sagen wir, nur aus Geigern besteht.
Ich glaube, da sind wir aber auch schon in Deutschland auf einem guten Weg, und wir sollten uns den nicht verderben lassen durch jene ewig Gestrigen oder eben jene neuen Impulse, die als Extremisten hier auftauchen, da müssen wir einfach als Gesellschaft stark bleiben, stark sein.
Ich weiß, dass die Mehrheit in Deutschland so denkt, und deshalb gibt es Aktionen wie jetzt den Kippa-Tag, wo man das auch mal deutlich machen kann, wo man nach außen tragen kann: Wir sind keine Antisemiten, wir haben nichts gegen Muslime per se. Ich glaube, dass solche Dinge sehr wichtig sind und dass sie die Gesellschaft stärken, um diesen antisemitischen Tendenzen Einhalt zu gebieten, denn es ist immer auch ein Selbstschutz. Eine starke Gesellschaft ist eben die, die ihre Schwachen schützt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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