Ingvild Richardsen: "Leidenschaftliche Herzen, feurige Seelen"

Frauenbewegung vor 1900 in der "Anderswelt" Münchens

10:44 Minuten
Eine Frau betrachtet historische Bildtafeln mit Portraits und Namen von Aktivistinnen der Frauenbewegung im Historischen Museum Frankfurt am Main.
Das Historische Museum Frankfurt am Main widmet der Einführung des Frauenwahlrechts vor 100 Jahren eine Sonderausstellung. © imago images / epd
Ingvild Richardsen im Gespräch mit Christian Rabhansl · 04.01.2020
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Vor 1900 haben Frauen in München für ihre Rechte gekämpft und viel erreicht. Die Stadt galt als liberal und zog Künstlerinnen an. Ingvild Richardson würdigt in ihrem Buch diese Frauen - und schildert, wie die Nazis die Erinnerung an sie tilgten.
Die Münchner Literaturwissenschaftlerin Ingvild Richardsen hat sich in ihrem Buch "Leidenschaftliche Herzen, feurige Seelen: Wie Frauen die Welt veränderten" mit dem Mikrokosmos München vor der Wende zum vorigen Jahrhundert beschäftigt. Der Fokus liegt auf der Zeit von 1890 bis 1900, im Buch stellt sie Protagonisten der Frauenbewegung vor.

"Anderswelt" München

Gabriele Reuter sei als Schriftstellerin schon erfolgreich gewesen, als sie aus Weimar nach München zog, erzählt Richardsen. Die Stadt habe den Ruf gehabt, die liberalste und vorurteilsfreieste Stadt im ganzen deutschen Reich zu sein und einen entsprechenden Menschenschlag angezogen. Reuter habe später von einer "Anderswelt" gesprochen, so Richardsen.
Reuter schrieb dann einen Roman, der aufgezeigt habe, was für einen Einfluss Milieu und Erziehung auf Frauen haben. "Da hat sie die Leidensgeschichte eines bürgerlichen Mädchens geschildert, in so erschütternder Weise, dass es ganz Deutschland aufgerüttelt hat." Richardsen merkt an, das Buch sei der Bestseller 1895 gewesen und in den 1890er-Jahren auch zum Kultbuch der Frauenbewegung in Deutschland avanciert.

Lesbisches Promi-Paar

Weitere Protagonisten im Buch von Richardsen sind Anita Augspurg und Sophia Goudstikker, die in München gemeinsam ein Fotoatelier gegründet haben. Richardsen nennt das "Fotoatelier Elvira" eine Keimzelle der Frauenbewegung. Beide waren 1886 nach München gekommen, gründeten das Atelier, schnitten sich die Haare kurz – "sie haben ein völlig neues Bild der Frau abgegeben, auch in München".
Als Fotografen wurden sie sehr schnell erfolgreich, lichteten Prominenz bis zum Königshof ab. Und in diesem Atelier habe sich bald auch die Szene der weiblichen Künstler in München getroffen.
Auch als lesbisches Paar waren Augspurg und Goudstikker ein Vorbild: "Es gab sicher kein Paar, was so berühmt war wie die beiden damals im Wilhelminischen Kaiserreich." Augspurg wurde 1897 die erste promovierte Juristin Deutschlands, mit einem Titel aus der Schweiz. Goudstikker war – als Niederländerin – die erste königliche bayrische Hoffotografin.

Erfolgsfaktor Netzwerk

Den Erfolg der Frauen und den Fortschritt für die Frauen führt Richardsen darauf zurück, dass die Frauen ein Netzwerk untereinander gebildet hätten, "in München, aber auch in Zusammenarbeit mit Berlin, mit Leipzig, mit Weimar – und die Hauptfigur war eigentlich Anita Augspurg, die überall diese Kontakte hatte", sagt Richardsen.
Da Frauen die Mitgliedschaft in politischen Vereinen untersagt gewesen sei, hätten Augspurg und Co. 1894 in München einen Verein gegründet, die "Gesellschaft zur Förderung der geistigen Interessen der Frau". Der Vereinsname habe absichtlich ein etwas rückständiges Bild der Frau suggeriert – "in Wirklichkeit haben sie die Ziele der modernen Frauenbewegung verfolgt: Bildung, Beruf, gleichberechtigte Entlohnung, Gleichstellung der Frau – das ist alles schon von diesen Frauen um 1900 sehr extrem ausgehandelt worden. Die waren da viel mutiger und progressiver als man das heutzutage ist."

Bekämpft in der Nazi-Zeit

"Ich wollte zeigen, dass es eine Zeit gab, in der Demokratie und Liberalität hoch im Kurs standen auch vor 1900", sagt die Literaturwissenschaftlerin über ihre Idee zu dem Buch. Sie springt in ihrem Buch aber aus der Zeit von 1890 bis 1900 bis in die Zeit der Nazi-Herrschaft.
Sie sagt, auch heute gebe es eine Bedrohung durch ein reaktionäres Frauenbild, die Gefahr eines Rückfalls ins 19. Jahrhundert, auch insofern sei es wichtig, die eigene Vergangenheit zu erinnern. Obwohl die Frauen damals erfolgreich gewesen seien bis 1933, sei es den Nationalsozialisten dann "gelungen, dieses Kapitel nahezu auszuradieren aus der Erinnerungskultur", sagt Richardsen.
Die in der Frauenbewegung engagierten Frauen seien, so Richardsen, verfolgt worden, die Nachlässe vernichtet worden: Augspurg etwa sei nach der Regierungsübernahme Hitlers nicht mehr nach München zurückgekehrt, sondern ins Exil nach Zürich gegangen. Ihr Nachlass und das Frauenarchiv seien von den Nazis vernichtet worden.
"Es ist schon so, das Hitler und die Nationalsozialisten ganz gezielt daran gearbeitet haben, diese liberale, demokratische Frauenbewegung, die nicht parteigebunden war, auszuradieren aus der gesamten deutschen Geschichte", sagt Richardsen.

Ingvild Richardsen: "Leidenschaftliche Herzen, feurige Seelen: Wie Frauen die Welt veränderten"
S. Fischer, Frankfurt am Main 2019
268 Seiten, 22 Euro

(mfu)
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