Ingo Schulze über Nachrufe

Der Tod macht manches nebensächlich

05:51 Minuten
Ein Grabmal mit einem Engel aus weißem Stein
Wenn der Tod kommt, werden Nachrufe geschrieben. Und nicht selten auch schon vorher. © Veit Hammer / Unsplash
Moderation: Vladimir Balzer · 17.11.2020
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Beim Radiosender RFI sind aus Versehen hunderte Nachrufe veröffentlicht worden – auf Personen, die noch leben. Der Schriftsteller Ingo Schulze über das Lesen von Nachrufen auf sich selbst, die eigene Trauer und Milde bei der Erinnerung an Verstorbene.
Queen Elizabeth, der brasilianische Fußballer Pelé und die französische Schauspielerin Brigitte Bardot gehören zu den vielen Prominenten, die der französische Radiosender RFI versehentlich für tot erklärt hat. Ein technisches Problem habe zur Online-Veröffentlichung hunderter Nachrufe geführt, entschuldigte sich der Sender - denn alle Persönlichkeiten leben noch.
Die Vorstellung, einen Nachruf über sich selbst noch lesen zu können, findet der Schriftsteller Ingo Schulze amüsant: "Man hat seinen Nachruf überlebt. Das ist doch wunderbar."
Der Schriftsteller Ingo Schulze sitzt auf einer Couch
Mit dem Schreiben eines Nachrufs könne man auch die eigene Trauer verarbeiten, sagt der Schriftsteller Ingo Schulze.© dpa / picture alliance / Annette Riedl
Den eigenen Nachruf selbst zu verfassen, wie etwa der kürzlich verstorbene Kabarettist Herbert Feuerstein, kann sich Schulze aber nicht vorstellen: "Ganz und gar nicht. So gut kann man sich selbst gar nicht sehen, wie man meistens in Nachrufen erscheint."
Schulze hat auch schon selbst einen Nachruf geschrieben - auf den ihm nahestehenden, ehemals schwer erkrankten Dichter Wolfgang Hilbig, der 2007 starb. Er habe erst mit dem Schreiben beginnen können, als Hilbig nicht mehr lebte, berichtet Schulze: "Sonst hat man den Eindruck, man schubst da jemanden mit ins Grab."
Den Nachruf auf Hilbig habe er anfangs als "furchtbare Aufgabe" empfunden, sagt Schulze: "Und dann war ich regelrecht dankbar." Er habe dort die eigene Trauer hineinschreiben können: "Und das hat mir dann geholfen."

Chancen auf eine andere Sichtweise

Schulze hat Verständnis dafür, dass Medien Nachrufe schon vor dem Ableben von prominenten Persönlichkeiten verfassen, um im Todesfall vorbereitet zu sein. Doch die Autoren müssten sich dabei in eine künstliche Situation versetzen: "Das bringt alles auf eine merkwürdige Weise durcheinander. Da kommt dann ein Futur II hinein - was ja mal ganz interessant ist."
Eine generelle Lobrede sei der Nachruf nicht, meint Schulze - doch unter dem Eindruck des Todes werde manches auch nebensächlich. Er wünsche sich diese Gelassenheit anderen gegenüber manchmal schon vor dem Tod:
"Der Nachruf ist vielleicht die Chance, ein erstes Mal die merkwürdige Umkehrung von Distanz und Nähe herzustellen - dass man manche Dinge schärfer sieht und der oder die Verstorbene einem dann doch vielleicht näher rückt."
(mle)
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