Inger-Maria Mahlke: "Archipel"

Die Lasten der Vergangenheit

Buchcover von Inger-Maria Mahlke: Archipel, im Hintergrund ein Sonnenuntergang auf Teneriffa
Inger-Maria Mahlke erzählt nicht nur Rosas Geschichte, sondern auch die Teneriffas. © Rowohlt / picture alliance / dpa / Martin Sasse
Von Sonja Hartl · 25.09.2018
Rosa kehrt nach Teneriffa zurück. Die Ankunft in ihrer alten Heimat ist zugleich der Beginn der Auseinandersetzung mit ihrer Familiengeschichte - einer Geschichte von Verwicklungen, Verbitterungen und Verletzungen aus den letzten 100 Jahren.
146.625 Stunden "Survivor" hat Rosa noch vor sich, "die Zahl ist irgendwie beruhigend" für sie. Seit ihrer Rückkehr auf ihre Heimatinsel Teneriffa hat sie schon 250 Stunden von der Reality-Show über eine Gruppe Menschen, die auf einer Insel überleben wollen, geguckt. "Unironisch". Und nun muss sie selbst einen Weg auf ihrer Insel finden. Wie genau er aussehen wird, bleibt offen. Rosas Rückkehr im Jahr 2015 ist nur der Anfang von Inger-Maria Mahlkes "Archipel", von dem aus sich die Erzählung in der Zeit zurück bis ins Jahr 1919 arbeitet, in dem Rosas Großvater Julio geboren wird.
Im Mittelpunkt von "Archipel" stehen drei Familien: Die großbürgerlichen Bernadottes, reich geworden durch den Kolonialismus, gehörten sie zu den Gründern der rechten Partei Falange und sind bis heute einflussreich auf der Insel. Die Bautes stammen aus der Mittelschicht, unterstützen die Sozialisten. Dazu gibt es die Frauen der Familie Morales, hart arbeitend, verloren und immer wieder ausgenutzt. In Rosa verbinden sich diese verschiedenen Zweige: Ihre Mutter entstammt der Familie Baute, ihr Vater ist ein Bernadotte, ihr Kindermädchen Eulalia Morales.

Verwicklungen, die nachwirken

Am Anfang kennt man all diese Verwicklungen noch nicht, da ist zunächst nur eine unglückliche Familie. Von Kapitel zu Kapitel geht Mahlke dann weiter in die Vergangenheit vor, ergeben sich Verbindungen, erklären sich Verbitterungen, Verletzungen und Anspielungen.
Zum Beispiel von Rosas Großvater Julio, der am Anfang fast 100-jährig als Portier in einem Altenheim anzutreffen ist. Je weiter der Roman in die Vergangenheit vordringt, desto besser versteht man, warum das Radfahren so wichtig für ihn ist, warum er Kilometer um Kilometer auf der Insel gedreht hat, obwohl er doch wusste, dass er ihr nicht entkommen kann. Man glaubt, ihm näherzukommen, jedoch verhindert die gewagte Konstruktion klug eine identifikatorische Lesart und konventionelle, emotionale Spannungsmomente. Wenn Julio 1936 in ein Lager kommt, weiß man bereits, dass er überlebt, man erfährt, worüber er nicht sprechen wird. Das Fehlen der Spannung verstärkt die Unerträglichkeit dieser Gefangenschaft. Genauso funktionieren zudem Erinnerungen, sie haben nicht die Spannung der Unmittelbarkeit.
In der Erzählweise liegt zudem ein Verweis auf die fehlende Linearität und Kausalität von Geschichte. In dem Moment des Ereignisses vermag niemand vorherzusagen, wohin es mit Bestimmtheit führen wird. Deshalb erzählt Mahlke die fast 100 Jahre Geschichte Teneriffas fast beiläufig; die Entwicklung einer "britischen Kolonie ohne Fahne", die ihre strategisch günstige Lage erkannt hat, zahlreichen Eroberungsversuchen ausgesetzt war und von der aus Franco 1936 den entscheidenden zweiten Staatsstreich organisiert hat, der in Bürgerkrieg und Diktatur führte, findet vor allem in Nebensätzen statt. Sie traut ihren Lesern zu, die großen Zusammenhänge von Kolonialismus, Faschismus und Klassenkampf zu begreifen.

Detailreich und bisweilen mühsam

Die Struktur des Romans, die Distanz zu den Charakteren, die detailreiche und mit spanischen sowie kanarischen Begriffen durchsetze Erzählweise lassen die Lektüre bisweilen mühsam werden. Aber diese Mühe ermöglicht, dass man Nebenfiguren bemerkt, die nur beiläufig erwähnt werden, dass man schon während des Lesens über Erinnerungen und Geschichte, über Ursache und Wirkung nachdenkt.
Am Anfang des Romans ist von einem Archipel die Rede, eine künstliche Insel, die neben Teneriffa entstehen soll. "Nicht von der Zeit deformiert, zurechtgedrückt, geschliffen. Nicht mit Geschichten behangen." Ohne Lasten, ohne Vergangenheit. Doch dieser Roman zeigt, dass das nicht möglich ist.

Inger-Maria Mahlke: Archipel
Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2018
432 Seiten, 20 Euro

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