Informationen aus Geräuschen

Von Christian Schütte · 11.08.2005
Ein Arzt kann mit dem Stethoskop hören, was dem Patienten fehlt. Ein Kfz-Mechaniker hört am Motorgeräusch, was kaputt ist am Auto. Der Klangforscher Thomas Hermann geht den umgekehrten Weg: Er verwandelt Informationen in Klänge. So kann er die Hirnströme eines Epilepsiepatienten hörbar machen oder eine Wettervorhörsage anbieten.
Regengeprassel, Wind und Husten – die akustische Wettervorhersage braucht keine erklärenden Worte. Man holt lieber gleich Schal und Regenschirm aus dem Schrank. Schwieriger zu erraten ist, was diese Rhythmen bedeuten.

Eine einstündige Therapiesitzung beim Psychologen, im Zeitraffer. Für jedes Wort wurde ein kurzer Ton erzeugt, der Patient kommt aus dem linken Lautsprecher, der Therapeut aus dem rechten. Ein hohes Ping bedeutet ein Wort mit positiven Gefühlen, ein tiefes Ping ist ein Wort mit negativen Gefühlen. In nur zehn Sekunden wird so die Stimmung des gesamten Gesprächs ausgedrückt.

Und das ist der Verkehr auf einem Autobahnabschnitt südlich von Frankfurt. Jeder Ton steht für ein Fahrzeug. Je höher die Geschwindigkeit, desto höher der Ton. Hier allerdings geraten die Autofahrer in einen Stau.

Aus Geräuschen Informationen ziehen – das hat Thomas Hermann zu seinem Beruf gemacht. Der 34-Jährige ist Assistent am Lehrstuhl für Neuroinformatik der Universität Bielefeld, wo ihn vor einigen Jahren eine Idee elektrisiert hat: Sind die Daten einer Volkszählung hörbar? Kann man Hirnströme zu Tönen machen?

Man kann. Mit Hilfe eines Computers hat der Informatiker das EEG eines Epilepsie-Patienten in Klänge verwandelt, oder im Fachjargon: sonifiziert. Das Resultat präsentiert er zuhause. In Jeans und T-Shirt sitzt er vor seiner professionellen Stereoanlage, kerzengerade und mit wachen blauen Augen – als würde er das, was gleich aus den Lautsprechern kommt, zum ersten Mal hören.

"Hier wird in dieser Sonifikation die Aktivität des Gehirns klanglich erfahrbar gemacht. Ich spiel einfach mal ab. So klingt das Gehirn also ganz normal. Und gleich geht's dann los mit dem Anfall. Jetzt."

Sich Daten einfach anhören – für Thomas Hermann ist das keine akustische Spielerei, sondern eine Alternative zu Grafiken und Diagrammen. Angesichts komplexer Daten ist das Auge oftmals überfordert und übersieht wichtige Informationen. Weltweit suchen Experten daher nach neuen Strategien. Der Bielefelder Informatiker setzt aufs Hören.

"Natürlich bedarf die Sonifikation einer gewissen Übung. Denn man muss natürlich sich mit dem Hören von Daten ein bisschen beschäftigen, um die Daten zu verstehen."

So sagt einem dieser Sound nicht viel, wenn man nicht weiß, dass es sich um die geräuschhafte Umsetzung von Ultraschalluntersuchungen handelt. 700 Tumorpatienten wurden untersucht, die Ergebnisse hat der Informatiker in einen Klang verwandelt. Ein hoher Ton bedeutet gutartig, ein tiefer Ton bösartig.

"Am Anfang hab ich sehr oft Stirnrunzeln gesehen, eine große Skepsis ob dieser Methode, die so unvertraut ist im wissenschaftlichen Alltag."

Trotzdem hat er gemeinsam mit seiner Arbeitsgruppe die Idee weiterentwickelt. Dabei ist auch die Wettervorhörsage entstanden. Das Wetter eines ganzen Tages in zwölf Sekunden, angefangen bei Mitternacht. Der erste Wecker heißt: es ist sechs Uhr morgens. Um zwölf schlägt die Kirchenuhr, beim zweiten Wecker wird es Abend.


Das rhythmisch geschlagene Vibraphon spiegelt die Temperaturkurve wider. Doch es stecken noch mehr Informationen drin.

"Nach Mitternacht haben wir ein bisschen Regen gehört. Der Vogel suggeriert schönes Wetter zum Spazierengehen. Und sie merken, wie schwer mir das fällt, in den zwölf Sekunden alles zu kommentieren, was da drin ist, weil die Sprache einfach viel zeitintensiver ist, wir können hier in zwölf Sekunden soviel Information nonverbal kommunizieren, wie wir es gar nicht könnten, wenn wir die Sprache bemühen müssten."

Den Wetterbericht hat er schon in der halben Welt vorgespielt. Gleich mehrere renommierte Forschungsinstitute haben ihn zu Vorträgen eingeladen, und auch auf internationalen Konferenzen mit anderen Datenforschern hat er seine Klänge präsentiert.

"2002 in Japan, 2003 in Boston, 2004 in Sydney, jetzt gerade vor einigen Wochen in Limerick."

Doch bei allen Reisen im Dienste der Forschung: Der Hobbymusiker mit absolutem Gehör liebt auch den Rückzug in die eigenen vier Wände – eine Vierer-WG im studentisch geprägten Bielefelder Westen. In Thomas Hermanns Zimmer sind die Möbel streng nach Feng Shui ausgerichtet. Ein Keyboard lehnt an der Wand, doch am liebsten greift er zur Gitarre und komponiert eigene Stücke.

Mit fünf Jahren hat ihn der Vater an die elektronische Heimorgel gesetzt, später bekam er Klavierstunden. Als Jugendlicher schraubte er an Synthesizern, besserte mit Tanzmusik sein Taschengeld auf. Nach dem Abi hat er sogar überlegt, Musik zu studieren.

"Mein Vater hat das auch sehr stark gewünscht und gefördert, letztlich hab ich mir aber gedacht, dass die Musik so wichtig ist, als Hobby und als Beschäftigung, dass ich sie ungern zum Beruf machen möchte, um eben dann musikalische Entfaltung in der Freizeit genießen zu können. Und daher habe ich dann auf meine zweite Leidenschaft gesetzt, die Naturwissenschaft."

Nach dem Physikstudium hat er dann doch beruflich zur Musik gefunden, durch den Quereinstieg in die Informatik, wo er seit seiner Promotion Daten in Klänge verwandelt. Nicht ohne Folgen fürs Privatleben.

"Zum Beispiel beim Waldspaziergang, dass man dann auch mit anderen Ohren hört, dass man sich dieser Sinfonie von Klängen, die da zusammenkommen, von Vogelzwitschern über das Blätterrascheln, von dem Material, auf dem man gerade geht, ob es Kies oder Sand oder Stein oder Erde ist, dass man hier genauer hinhört. Man lernt einfach das Hören auf eine ganz andere Art und Weise wertzuschätzen, und das ist eine tolle Sache."

Und wo in der Natur keine Geräusche vorkommen, macht er sich selbst welche. Seine erste Datenverwandlung handelte von 150 Irisblumen, die zuvor von Biologen ausgemessen worden waren, Blatt für Blatt. Das Ergebnis der Messung: gab es nicht in Zentimetern, sondern in Dezibel.