Individuum und Gesellschaft

Warum es in der Demokratie auf den Einzelnen ankommt

Eine umgefallene rote Spielfigur liegt vor schwarzen Spielfiguren.
Der Einzelne ist die Schwachstelle eines Systems, das wie kein anderes Individualität zulässt, so Christian Schüle. © imago / McPHOTO
Von Christian Schüle · 06.07.2017
Das Individuum ist das wichtigste Organ der Demokratie - und zugleich sein labilstes, meint Christian Schüle. Um diese Schwachstelle zu stärken, müsse die Politik dringend eine neue Form für die Mündigkeit des Bürgers der Zukunft finden, fordert der Publizist.
Das eigentlich Gefährliche in Zeiten autokratischer Verführungen besteht darin, dass die Demontage der Demokratie mit dem Verlust ihrer Substanz beginnt und wir es nicht merken.
Gewiss, es gibt regelmäßige Wahlen. Wir haben den formal funktionierenden Rechtsstaat. Wir haben Gewaltenteilung und Pressefreiheit. Alles richtig. Dennoch: Demokratie lebt von Voraussetzungen, die sie selbst weder schaffen noch garantieren kann. Sie ist auf Mündigkeit, Einsicht und Teilnahmebereitschaft ihrer Bürger angewiesen.
Dafür bedarf es einer von möglichst allen anerkannten Erzählung über eine von möglichst allen anerkannte Wirklichkeit. Lange Jahre bestand diese Erzählung im Versprechen vom Aufstieg des Einzelnen durch Teilhabe am stets wachsenden Gesamt-Wohlstand.

Die Bedeutung des gesellschaftlichen Aufstiegs

Wie sich jetzt heraus stellt, hatten wir es offenbar mit einer selektiven Wahrnehmung von Wirklichkeit zu tun: Jahrelang galt allein die Aufstiegsdefinition der liberalen Akademiker als maßgeblich und vorbildlich für ein gelingendes Leben: hohe Bildung, hohes Einkommen, hohes Sozialprestige.
Über die Jahrzehnte hinweg hat sich der Einzelne vom bürgerlichen Individuum zum einsamen Individualisten radikalisiert, der vor lauter persönlicher Vorteilsmaximierung das Gemeinwohl und die Loyalität gegenüber dem Gemeinwesen aus den Augen verloren hat. Über Jahrzehnte hat man nationalkonservative Sehnsüchte größerer Bevölkerungsteile ignoriert oder als dumm und rechts-reaktionär gebrandmarkt.

Wenn Geborgenheitsmilieus verloren gehen

Schließlich brachte und bringt die digitale Revolution, die ungefragt in jeden Lebensbereich jedes Einzelnen hinein regiert, eine enorme Verdichtung von Zeit, die immense Beschleunigung aller Produktionsprozesse und die zunehmende Entmenschlichung der Arbeit durch Robotik, Automation und Rationalisierung mit sich – was zum Verlust herkömmlicher Geborgenheitsmilieus und ihrer Schutzmächte führt.
Geht der Glaube des unbehausten Bürgers an dauerhaftem Halt und Sicherheit verloren, springen geschickt agierende Profiteure in die Bresche und zeichnen das Bild "eigentlicher", paralleler Wirklichkeiten: jene der "Verlierer", der "Abgehängten", der Betrogenen, der Erniedrigten.
Die Fragmentierung in separierte Erfahrungswelten mit unvereinbaren Realitätserzählungen und homogenen Echokammern ist für jede Demokratie äußerst problematisch. Wer sorgt für das Epos, das alle erreicht?
Die klassischen Medien können keine kohärente Erzählung einer objektiven Wirklichkeit mehr liefern; eine allgemeine Deutung über gesichertes Wissen, objektive Fakten und zielgerichtete Vernunft gibt es nicht mehr.

Kunst der verbindlichen Ansprache gefordert

Die Politik, vornehmlich die Regierungen der G-20, müsste dringend die neue Form einer Mündigkeit des Bürgers der Zukunft finden. Beteiligung kann man nicht erzwingen, man kann sie nur vorbereiten. Gute Politik ist wesentlich Kommunikation – und Kommunikation: die Kunst der verbindlichen Ansprache.
Die politische Reproduktion der Gesellschaft ist vor allem eine kulturelle und pädagogische Aufgabe: frühkindliche Förderung etwa, Bildungspartnerschaften, Chancengleichheit ohne Herkunftsdistinktion, duale Ausbildungsprogramme für Jugendliche, Aufbau einer aktiven Zivilgesellschaft durch Nachbarschaftsnetzwerke, Kommunal-Quartiere, Kooperationsgemeinschaften und Zukunftsräte auf regionaler Ebene.

Wichtig und labil zugleich

Das wichtigste Organ der Demokratie ist ja immer zugleich sein labilstes: das Individuum. Es ist die Schwachstelle eines Systems, das wie kein anderes Individualität zulässt, fördert und dafür Verantwortung und Loyalität fordert. Demokratie ist mehr als nur ein Verfahren zur Verteilung und Entlastung von Einkommen.
Dieses mühsame, langsame, manchmal behäbige Geschäft, funktioniert nur, wenn der idealistische Grundsatz par excellence gewahrt bleibt: dass jeder Bürger jeden anderen zu jeder Zeit regieren kann, darf und soll.
Jeder Einzelne ist Demokratie. Gehe also jeder in Vorleistung und fange bei sich selbst an – und zwar jetzt, da wir hier noch Frieden haben.

Christian Schüle, 46, hat in München und Wien Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert, war Redakteur der "ZEIT" und lebt als freier Essayist, Schriftsteller und Publizist in Hamburg. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter den Roman "Das Ende unserer Tage" (Klett-Cotta) und zuletzt die Essays "Heimat. Ein Phantomschmerz" (Droemer) sowie "Wir haben die Zeit. Denkanstöße für ein gutes Leben" (edition Körber-Stiftung). Seit 2015 ist er Lehrbeauftragter im Bereich Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

© Nicole Strasser
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