"Individualität muss nicht an einen individuellen Besitz gekoppelt sein"

Weert Canzler im Gespräch mit Susanne Führer · 28.01.2011
Der Automobilexperte Weert Canzler erwartet ein baldiges Ende des ungebremsten Wachstums im Individualverkehr. Es seien auch andere Modelle denkbar, bei denen Autos gemeinschaftlich genutzt würden und nur zeitweise zur Verfügung stünden, sagt Canzler.
Susanne Führer: Es war am 29. Januar 1886, also morgen vor 125 Jahren, da meldete Carl Benz das Patent für ein benzinbetriebenes Kraftfahrzeug an, für den Benz Patent-Motorwagen Nummer eins. Und dann ging es Schlag auf Schlag: In Europa und in den USA entstanden Automobilfabriken, 1913 schon führte Henry Ford in den USA die Fließbandproduktion ein, in Deutschland begann die Massenproduktion 1924 mit dem Opel Laubfrosch, und heute rollen rund eine Milliarde Autos über den Erdball, wenn sie denn überhaupt rollen und nicht gerade stehen, ob jetzt auf dem Parkplatz oder im Stau. Weert Canzler leitet die Projektgruppe Mobilität am Wissenschaftszentrum Berlin und ist jetzt zu Gast im "Radiofeuilleton". Herzlich Willkommen, Herr Canzler!

Weert Canzler: Guten Morgen!

Führer: Eine Milliarde Autos, es gilt als das wichtigste Transportmittel der Welt heute. Warum ist das Auto so wahnsinnig erfolgreich?

Canzler: Weil es zum einen enorme Vorteile hat, es ist extrem flexibel, man muss sich nicht verlassen auf Fahrpläne, auf fremdbestimmte Vorgaben, man kann selber damit automobil unterwegs sein, das ist glaube ich das Geheimnis dieser Automobilität und Individualität.

Dann hat es einen hohen symbolischen Wert: Das Auto ist weltweit ein Instrument, um zu beweisen, dass man es geschafft hat, dass man wirtschaftlichen Aufstieg persönlich geschafft hat, aber auch kollektiv. Und es ist als Drittes natürlich ein Instrument, was sozusagen, wenn man es erst mal hat, bestimmte Strukturen schafft, aus denen man dann so schnell nicht wieder rauskommt.

Führer: Dazu kommen wir später noch. Es ist ja vielleicht nicht nur ein Symbol dafür, dass man es geschafft hat, sondern möglicherweise, also wenn man zumindest Ferdinand Dudenhöffer, dem sogenannten Autopapst von der Uni Duisburg-Essen folgt, auch die Voraussetzung. Der hat nämlich gesagt, ich zitiere mal: "Ohne Auto keine individuelle Mobilität, und ohne individuelle Mobilität kein Wirtschaftswachstum."

Canzler: Das ist bisher so gewesen, in der Tat, und wir erleben ja gerade in China beispielsweise oder auch in Indien, dass das offensichtlich sich wiederholt, dieses Muster, wobei zwei Dinge dazu einzuwenden sind. Das eine: Individualität muss nicht an einen individuellen Besitz gekoppelt sein. Man kann sich ja auch eine individuelle Mobilität vorstellen, die lediglich den Zugang ermöglicht.

Also ich habe jederzeit Zugang zu einem Auto, ohne dass ich es selber besitze. Ich habe ja auch Zugang zu Flugzeugen und zu U-Bahnen, ohne dass ich sie besitze, also das ist die eine Frage. Die andere ist die natürlich: Es gibt ja Grenzen in diesem Modell, und die Grenzen sind einfach die der Ressourcen. Die bisherige Basis sind fossile Kraftstoffe, also Mineralöl oder auch Gas, wenn man es verflüssigen würde, und die sind begrenzt, das heißt, wir haben da ein Wachstumsproblem insofern, als dass es eine objektive Grenze gibt. Wenn diese eine Milliarde sich auf zwei Milliarden erhöhen, und das ist die Prognose für 2030, dann sind diese Grenzen überschritten, und spätestens dann funktioniert das Modell nicht mehr.

Führer: Dann nicht mehr, aber zurzeit funktioniert es ganz gut, man kann glaube ich ganz gut eine Korrelation herstellen zwischen der Anzahl der Autos in einem Land und der Wohlhabenheit, also dem Reichtum des Landes. Also noch mal zu diesem Zitat zurück, mit dem Individuellen, so die Phantasie, diese Bilder von früher, diese Fabriken, wo sozusagen die Arbeiter alle zur selben Zeit einfahren in die Fabrik, ob jetzt mit Werksbussen oder wie auch immer, und zur selben Zeit sie wieder verlassen, das ist ja nicht mehr das Modell des Wirtschaftens in den erfolgreichen Ländern, ...

Canzler: So ist es.

Führer: ... sondern da, wo wir sagen, da ist die Werkbank.

Canzler: Genau, das war ja die sogenannte Fordismus-Phase, die haben wir überwunden, auch selbst in den Autofabriken hat sich das verändert. Also wenn ich mir angucke, wie die Schichtzeiten bei Volkswagen sind – das sind Hunderte von Arbeitszeiten, die sich überlappen, da ist nichts mehr mit dem Tross, der am Morgen hingeht und dem Tross, der am Abend wieder die Werkshallen verlässt. Das ist alles schon hoch flexibilisiert, und das ist im Verkehr insgesamt natürlich auch.

Warum hängt das nur am Auto? Man könnte sich natürlich eine Kombination von Verkehrsmitteln vorstellen, die hoch individuell ist, und die dann über eine andere Technik, die auch übrigens hoch individuell ist, nämlich das kleine Smartphone, einen ganz individuellen Zugang ermöglicht. Also da sind technische Umbrüche aufgrund anderer Basistrends der Informations- und Kommunikationstechnologie möglich und in Ansätzen ja auch schon verwirklicht, die von diesem klassischen Auto – ich habe das Auto, ich fahre mit dem Auto und alles andere habe ich auch eigentlich gar nicht im Kopf als Alternativen oder als Verknüpfungspunkte –, dass das im Grunde ein Modell von gestern ist.

Führer: Ich merke, Sie wollen immer wieder in die Zukunft blicken, und ich bin doch noch immer bei der Vergangenheit beziehungsweise bei dem Jetzt-Zustand, Herr Canzler. Was ich ja faszinierend finde: Wenn man sich das mal klar macht, wie sehr das Auto ... Also es gibt ja alle möglichen Technologien, die unser Leben erleichtert und verändert haben, nehmen wir den Kühlschrank oder den Reißverschluss, aber das Auto hat ja wie kaum glaube ich eine andere Erfindung unsere Umwelt tatsächlich – also jetzt auch haptisch, optisch – enorm verändert, also die Städte sind danach ausgerichtet, wir arbeiten anders, wir leben anders, wir wohnen anders. Hängt alles mit dem Auto zusammen, oder?

Canzler: Genau, weil das Auto eben nicht nur ein Transportmittel ist, sondern sozusagen ein Instrument, was das Denken auch verändert. Also das fängt an in der Alltagsplanung, das geht hin bis zu der sogenannten Residenzentscheidung, also die Frage, wo ich wohne, das berühmte Häuschen im Grünen ist ja nur möglich in dem Moment, wo ich das Auto mitdenken kann, und das Häuschen im Grünen bei fortgesetzter innerfamilialer Arbeitsteilung ist nur möglich, wenn ich das Zweitauto mitdenken kann. Also insofern ist das Auto eben nicht nur ein reines Instrument, wie viele andere Techniken, sondern es ist etwas, was sozusagen das ganze Leben – und zwar sowohl im Nahbereich als auch sozusagen die Strukturen von Lebensverläufen – mitbestimmt. Das ist das Spezifische beim Auto, also eine ganz bestimmte Technik, die zurückwirkt.

Führer: Nun wissen wir ja, dass man in den 50er-Jahren oder auch in den 60ern noch von einer autogerechten Stadt geschwärmt hat. Das tut ja heute keiner mehr. Trotzdem, hat man manchmal den Eindruck, bauen wir immer noch um die Autos herum, also die Straßen, die Parkplätze, das Einkaufszentrum auf der grünen Wiese, also jeder, der sich irgendwo ansiedelt mit einem Geschäft, macht die Überlegung: Wie bin ich erreichbar?

Canzler: Ja. Gut, das ist natürlich auch viel Rhetorik dabei, wenn heute von nachhaltiger Stadt gesprochen wird und dergleichen. In Wirklichkeit macht man natürlich vieles von dem, was man in den 60er-, 70er-Jahren auch schon gemacht hat, um das Auto herum, da haben Sie völlig Recht. Das andere ist natürlich: Wir haben eine gewisse Pfadabhängigkeit, also in dem Moment, wo wir eine hohe Motorisierung haben, muss jeder Einzelhändler auch darauf achten, dass seine Kunden, die eben motorisiert sind, auch kommen können. Also insofern – das ist genau die Abhängigkeit, die wir gerade hatten: Wir haben eine Autoabhängigkeit mittlerweile erreicht, wobei man sagen muss, die großen Städte sind an der Grenze dessen, was sie leisten können, also da ist sozusagen ... Wir reden jetzt nicht von Vorstädten, da ist klar, das ist nach wie vor autogerecht, aber die großen Städte sind längst an ihre Grenzen gekommen.

Und das Entscheidende ist jetzt – und da komme ich noch mal auf die Zukunft: Was passiert eigentlich in den sich bildenden großen Städten, den Megacities Asiens, Südamerikas? Machen die sozusagen das gleiche Muster, wie wir es gemacht haben, oder gehen sie, weil sie relativ schnell an die Grenzen kommen, schneller als es etwa im Westen nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall war, gehen sie auf neue Motorisierungs-, Mobilisierungsmuster?

Führer: 125 Jahre Automobil ist mein Thema mit Weert Canzler vom Wissenschaftszentrum Berlin. Herr Canzler, Sie sagen jetzt zwar mit der Zukunft, okay, also ein Flugzeug besitze ich auch nicht, trotzdem hat ein Flugzeug und auch eine U-Bahn bestimmte feste Abfahrtszeiten. Das wird dann vielleicht ja trotzdem nicht der Weg der Zukunft sein, so ein kollektives Verkehrsmittel, in unserer hoch individualisierten, auch wirtschaftlich individualisierten Gesellschaft, oder?

Canzler: Also alle Zwänge wird man nicht vermeiden können, das ist richtig. Aber ich kann mir zum Beispiel ein Modell gut vorstellen, wo wir in der Stadt ein Minimum, eine kritische Masse an verfügbaren Fahrzeugen haben, die sind jederzeit ortbar, jederzeit buchbar mithilfe eines intelligenten kleinen Endgerätes, was ich in meiner Tasche habe. Ich kann damit jederzeit das Ding öffnen, ich kann damit fahren, die Fahrzeugdaten werden übermittelt, ich kann die Abrechnung damit einsehen. Also ich habe sozusagen einen individuellen Zugang. Das bedeutet allerdings, dass man eine gewisse Masse an Fahrzeugen zur Verfügung hat.

Führer: Warum sollte ich das tun? Was ist für mich der Vorteil? Ich meine, in meinem eigenen Auto, da liegen meine Stiefel rum, da habe ich meinen Kram.

Canzler: Ja, weil wir zumindest da, wo wir jetzt das größte städtische Wachstum haben – schauen wir uns die großen Millionenstädte in China an: Wir können schlichtweg vom Platz her uns nicht vorstellen, dass wir eine Motorisierungsrate haben, wie wir sie etwa in den westdeutschen Vorstädten haben oder in Wolfsburg. 600 Autos auf 1000 Einwohner sind im Großraum Shanghai nicht realisierbar, das heißt, wir müssen mit knappem Raum umgehen.

Und da wird es intelligente Lösungen geben, und eine davon könnte sein die gemeinschaftliche Nutzung von Autos auf höchst technischem und höchst individuellem Weg, mit einer hohen Verfügbarkeit, das heißt, ich habe tatsächlich um jede Ecke rum ein Auto, was ich nutzen kann, buchen kann, und dass es diese ersten Versuche ganz erfolgreich schon gibt, zeigt für mich, dass die Autoindustrie – die braucht man ja dazu – und auch andere Treiber, die da Interesse dran haben, dass die in die Richtung auch nachdenken und die ersten Versuche machen.

Und wir haben so etwas ja schon, und die großen Städte in China sind auf der Suche und gucken: Wo kann man jetzt neue Modelle umsetzen, die jetzt sozusagen die Vorteile des Autos mitnehmen, aber diese extreme Ineffizienz, die ein Privatauto hat – das steht über 23 Stunden am Tag rum, das ist extrem ineffizient –, ...

Führer: Und wir setzen dann mal voraus, dass es dann nicht mehr mit fossilen Brennstoffen, also nicht mehr mit Erdöl betrieben wird, sondern mit Strom oder mit Wasserstoff. Das Thema sei mal geschenkt. Aber der Autoverkehr an sich wird sich ja möglicherweise dadurch nicht ändern.

Ich habe mal ein interessantes Gedankenexperiment, wie ich finde: Mal angenommen, es gäbe keine Autos und es käme heute jemand und sagte, ich habe hier eine ganz tolle neue Technologie, das Auto, könnt ihr haben, könnt ihr rumfahren, wie ihr wollt, ihr müsst allerdings 4000 Verkehrstote pro Jahr in Kauf nehmen. Würde man die dann heute noch einführen?

Canzler: Das ist ein gutes Experiment, wobei 4000 würde man vielleicht noch akzeptieren. Aber wir haben ja, wenn man sich China anguckt, relativ gesehen viel mehr Verkehrstote, und wir hatten ja in Deutschland auch 20.000.

Führer: Ja, wir haben jetzt aber 4000 im Jahr, also wenn man jetzt mal denkt an die Aufregung wegen des Dioxins in den Eiern und jetzt sagt, ihr kriegt ein Auto, aber nur, wenn ihr 4000 Tote im Jahr akzeptiert, würde man vielleicht doch zurückschrecken. Aber wir haben uns so daran gewöhnt.

Canzler: Wir haben uns daran gewöhnt, außerdem ist es ja natürlich auch so eine gewisse Eigenverantwortung, eine Delegation von Verantwortung: Ich bin der Autofahrer. Ich bin in gewisser Weise Herr meiner Geschicke, und die potenziellen anderen im Verkehr sind auch die potenziellen Opfer. Also das Denken ist so ein bisschen was anderes beim Autofahren, also insofern glaube ich schon, dass das akzeptiert würde.

Führer: Also kein Ende für den Autoverkehr absehbar, auch wenn er sich möglicherweise anders organisieren wird. Das war Weert Canzler, der Leiter der Projektgruppe Mobilität am Wissenschaftszentrum Berlin, übrigens mit dem Fahrrad zu uns ins Funkhaus gekommen. Danke für Ihren Besuch, Herr Canzler!

Führer: Danke auch!