Indien: Corona als soziales Stigma

Die neuen Unberührbaren

22:17 Minuten
Dichtgedrängt sitzt eine Familie auf dem Fußboden in ihrem Haus.
Social Distancing - angesichts der beengten Wohnverhältnisse, in denen Indiens Arme leben, ist das schlicht unmöglich. © ARD-Studio Südasien
Von Silke Dittrich · 23.06.2020
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Einmal Corona, immer Corona? In Indien ist Covid-19 zum Stigma geworden, das vor allem die Armen trifft. Infizierte werden geächtet, und viele Reiche lassen ihre Putzfrauen und Köchinnen nicht mehr ins Haus, da sie sie als Infektionsrisiko betrachten.
Ein nackter Mann liegt tot unter seinem Krankenbett, daneben liegen andere Patienten, die sich mit Corona angesteckt haben. Einer von ihnen hat das Video in einem öffentlichen Krankenhaus in Neu-Delhi aufgenommen und es an indische TV-Stationen geschickt. Der Boden der Klinik ist voll mit dreckigen Papiertüchern. Im Badezimmer liegen unzählige, leere Plastikflaschen. Es gibt kein fließendes Wasser hier.
"Unser Zimmer wurde seit mehr als einer Woche nicht mehr saubergemacht", erzählt ein Patient in dem Video.
Auch Ärzte oder Krankenschwestern würden sich kaum noch blicken lassen. Das Video hat einen Skandal ausgelöst. Der Innenminister von Indien hat nun angeordnet, in allen staatlichen Kliniken Sicherheitskameras zu installieren, damit sich solche Missstände nicht wiederholen.
Seit mehr als zwei Wochen gibt es in Indien keine Ausgangssperre mehr. Wochenlang standen mehr als 1 Milliarde Inderinnen und Inder unter Hausarrest. Dennoch hat sich die Zahl der Infizierten erhöht. Im Gegensatz zu anderen Ländern, in denen die Ausgangssperre gelockert wird, wenn die Kurve abflacht, hat die indische Regierung ihr Land wieder geöffnet, als die Kurve auf dem Peak war: 250.000 gemeldete Fälle. Das war am 8. Juni. Seitdem hat sich die Zahl der Infektionen fast verdoppelt.

Krankenhäuser vor dem Kollaps

Allein in der Hauptstadt Neu-Delhi würden in den nächsten Wochen und Monaten wohl mindestens 100.000 zusätzliche Krankenhausbetten benötigt, um ausreichend Patienten versorgen zu können, sagen die Behörden. Dafür wurden nun Zugabteile umfunktioniert: 500 stehen in einem der Bahnhöfe von Neu-Delhi, das macht 8000 Pritschen. Plastikplanen, festgeklebt mit rissigem Klebeband, sind über die rostigen Außenseiten der Waggons gespannt. Deepak Kumar, der Sprecher der Bahn in Nordindien, erklärt einem indischen Fernsehsender die Inneinrichtung der neuen Corona-Stationen:
"In jedem Abteil befinden sich zwei Toiletten, zwei Mülleimer und drei Sauerstoffflaschen. Hier sollen nur Menschen hin, die milde Symptome aufweisen."
In einer festlichen Halle mit Kronleuchtern stehen lange Reihen mit provisorischen Krankenhausbetten.
Von der Veranstaltungshalle zum provisorischen Krankenhaus: in Indien werden die Krankenhausbetten knapp.© imago / Hindustan Times
Hastig ist in der letzten Woche auch eine Veranstaltungshalle zu einer Covid-Aufnahme-Station umfunktioniert worden. 10.000 Patienten können hier ein Bett bekommen. Doch dafür wären 100 Ärzte nötig und noch mehr Pflegepersonal. Wo die alle herkommen sollen, weiß derzeit kein Mensch. Schon in allen anderen Kliniken in den Megametropolen arbeitet das Personal am Anschlag. Wenn die Menschen überhaupt noch zur Arbeit gehen, sagt Rince Joseph. Er ist Krankenpfleger und in der Gewerkschaft des Pflegepersonals:
"In meinem Krankenhaus ist es so, dass von 500 Pflegern mehr als ein Viertel selbst infiziert ist. Und in den kommenden Tagen wird diese Zahl noch steigen. Das wird ein Riesenproblem. Denn jeder, der positiv getestet wird, muss mindestens 21 Tage in Quarantäne und fällt solang aus."

Ausländer verlassen das Land

Immer mehr Menschen verlassen das Land, wenn sie es denn können. Rund 5000 Deutsche leben in Indien, die Aufbruchsstimmung wächst zunehmend. Erik Illig sitzt schon auf gepackten Koffer, mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern geht es jetzt zurück nach Deutschland, erzählt er im Skype-Interview:
"Durch die Information des Deutschen Botschaftsarztes, dass eine gesundheitliche Versorgung in Indien, speziell in Neu-Delhi, nicht mehr aufrechterhalten werden kann, weil alle Krankenhausbetten voll sind. Und auch wenn man nicht Corona hat, sondern einen anderen medizinischen Notfall und man nicht mehr versorgt werden kann, ist es keine Option mehr für uns zu bleiben."
Seit sieben Jahren ist Erik Illig der Geschäftsführer von "Wilhelm Textil" in Indien. Seine jüngste Tochter ist hier geboren. Noch weiß die Familie nicht, wann sie wieder zurückkehren kann nach Indien. Jetzt in der Coronakrise verlieren Visa ihre Gültigkeit, sobald man das Land verlässt, und derzeit werden keine neuen Visa für Indien ausgestellt. Aber die Nachrichten in den indischen Fernsehsendern haben die Familie zu sehr belastet:
"Zum Teil sind es dramatische Lagen, die einem schon nahegehen. Wenn man sieht, dass sich die Leichen stapeln und Leute rumfahren und entnervt nach Krankenhausbetten suchen, das ist dann schon extrem."

"Ein Leben wie im Luxusgefängnis"

Mehr als sieben Wochen haben die beiden Töchter von Erik Illig die Wohnung nicht verlassen dürfen während der Ausgangssperre. Lebensmittel wurden an die Tür geliefert, ein Leben wie in einem Luxusgefängnis, sagt der Geschäftsführer. Auch wenn das Leben in Deutschland für seine Familie nun sehr viel entspannter wird als hier in Indien, macht sich seine 9-jährige Tochter große Sorgen vor der Abreise:
"Es geht soweit, dass sie Angst hat zu fliegen. Sie sagt: Papa, was passiert denn, wenn ich mal auf die Toilette muss? Muss ich mir da jetzt eine Flasche mitnehmen oder eine Windel von der kleinen Schwester, falls ich auf die Toilette muss? Da möchte ich nicht hingehen."
Viele Freundinnen der Töchter sind schon vor Wochen mit Evakuierungsflügen der Deutschen Botschaft ausgereist. Jetzt ist auch Familie Illig froh, rauszugehen:
"Wir waren am Anfang relativ unsicher, ob das die richtige Entscheidung war. Auch wegen des Unternehmens natürlich, ich bin ja hier schließlich der Kapitän und der sollte eigentlich als letzter das Schiff verlassen. Auf der anderen Seite arbeitet die Verwaltung stabil aus dem Homeoffice, sodass die Entscheidung nicht ganz so schwer zu fällen war. Und ich muss sagen, jeden Tag, an dem die Reise näherkam und sich die Lage verschlechtert hat, dann noch das Schreiben der Botschaft... Wir sind froh, dass die Entscheidung so gefallen ist."

Die Tagelöhner trifft die Krise hart

Inderinnen und Inder haben die Wahlmöglichkeit nicht. Sie müssen im Land bleiben. Schätzungen reichen von insgesamt 15 bis zu 30 Millionen Menschen, die seit März 2020 auf der Flucht zurück aus den Metropolen in die ländlichen Regionen waren. Von heute auf morgen hatten sie keinen Job und somit auch nichts mehr zu essen. Die Tagelöhner in Indien leben von der Hand in den Mund. "Die Karawane des Elends", so haben die indischen Medien getitelt.
Mit einem Bündel über der Schulter haben sich die Menschen zu Fuß aufgemacht, weil während der Ausgangssperre weder Züge noch Busse gefahren sind. Mindestens 200 Menschen sind auf ihren Märschen gestorben: Sie wurden auf den Highways überfahren, sind in Lastwagen erstickt oder waren einfach zu erschöpft, weil sie tagelang bei 45 Grad durch die Hitze laufen mussten. Ein tragisches Video hat tagelang die indische Nation bewegt. Darauf ist ein kleiner Junge zu sehen, etwa zwei Jahre alt, der mit einer Decke spielt. Darunter liegt seine Mutter, die er wecken will. Sie aber liegt reglos auf dem Boden. Sie hat die Reise nicht überlebt.
Für einige Menschen, die es bis in ihre Dörfer geschafft haben, ist die Rückkehr zum Albtraum geworden. Om Prakash hatte vor der Coronakrise in einer Fabrik gearbeitet, die dann schließen musste. Wie fast alle Fabriken im Land. Nach tagelanger Reise ist er endlich in seinem Heimatdorf Santoshpura in Nordindien angekommen und wurde gleich krank. Nach einigen Tagen das Testergebnis: Corona-positiv. Drei seiner Söhne hat er angesteckt. Das Dorf geriet in Panik. Die Familie wurde zu Hause eingesperrt. Große Plakate warnten vor Kontakt mit Om Prakash.
"Am Anfang waren die Leute in meinem Dorf noch ganz nett, als wir zurückgekommen sind. Aber als klar war, ich bin positiv, wurde es schlimm. Die Dorfbewohner haben uns ganz schrecklich behandelt. Es ist wie ein Stigma."
Ein Mann hat sich einen türkisfarbenen Schal ums Gesicht gebunden und hockt in einem staubigen Hinterhof. Im Hintergrund liegt eine weiße Ziege.
Krank kam Om Prakash in sein Heimatdorf zurück - und wurde von den Bewohnern wie ein Aussätziger behandelt.© ARD-Studio Südasien
Santoshpura hat 750 Einwohner. Die nächste Stadt ist zwei Stunden entfernt. Die Menschen hatten sich sicher gefühlt vor Corona. Dann kamen die Wanderarbeiter ins Dorf zurück. Sie kennen sich seit der Kindheit. Doch jetzt wäre es ihnen am liebsten, wenn die Tagelöhner schnell wieder verschwinden würden, sagt Tota Ram:
"Wir haben Angst. Wir wissen von mindestens einem, der das Virus ins Dorf geschleppt hat. Das überträgt sich doch durch die Luft. Am Ende wird das ganze Dorf infiziert sein."

Fiebermessen – mehr kann der Arzt nicht tun

Beim Besuch der Krankenstation wird klar, warum die Menschen so viel Angst haben, krank zu werden. Verdreckte Betten, die wenigen Medikamente liegen angebrochen in Pappschachteln. Standardausrüstung auf dem Land in Indien. Coronapatienten sollten sich am besten in die Stadt durchschlagen, sagt Irshad Ansari, der Arzt für die Dorfbewohner in der Region. Das Sauerstoffgerät, das weit hinten in der Ecke steht, sei hier ewig nicht mehr benutzt worden.
"Wenn ich von einem Coronafall erfahre, kann ich im Prinzip nur mit dem Fieberthermometer hingehen, mit dem Patienten reden und ihm die Temperatur messen. Viel mehr kann ich hier nicht machen."
Om Prakash hat die Krankheit mittlerweile auskuriert. Seit ein paar Tagen erlaubt ihm die Dorfgemeinschaft wieder, aus dem Haus zu gehen. Doch mit ihm reden will immer noch keiner:
"Sie denken: Einmal Corona, immer Corona. Also schneiden sie mich weiterhin."

Wenn die Putzfrau als Infektionsrisiko wahrgenommen wird

Nicht nur auf dem Land, auch in den Städten haben die armen Menschen mit dem Stigma Corona ein großes Problem. Das zeigt sich vor allem bei den Hausangestellten, die hier oft Servants heißen, also Diener oder Dienerinnen. Für die meisten Menschen ist das in Deutschland wohl kaum vorstellbar, aber fast jede indische Mittelklasse-Familie hat mindestens drei Hausangestellte: Die eine kocht, die andere spült und noch einer räumt auf. Diese Hausangestellten, meistens sehr arme Frauen, haben in der Regel auch mehrere Arbeitgeber, die sie mit Sir oder Madam ansprechen.
Während der Ausgangssperre konnten sie nicht zum Kochen vorbeikommen, weil alle Stadtviertel abgeriegelt waren. Trotzdem hätten die Arbeitgeber den Lohn weiter zahlen sollen. Laut einer Studie haben aber mehr als 85 Prozent das nicht getan. Obwohl die Ausgangssperre im Land seit mehr als zwei Wochen so gut wie aufgehoben ist, lassen viele Familien die Putzfrauen und Köchinnen noch immer nicht zurück an die Arbeit: Sie haben Angst vor ihnen. Weil diese Frauen in armen Verhältnissen wohnen, oftmals die Toiletten mit ihren Nachbarn teilen müssen. Ashu Kashyab hat Glück, einer ihrer Arbeitgeber lässt sie wieder ins Haus:
"Ich sehe sie allerdings fast gar nicht mehr. Ich putze und verlasse dann sofort das Haus. Sie haben Angst vor uns, weil wir in Busse steigen und in kleinen Wohnungen leben."
Wenn die Frauen wieder in Häuser gehen, dürfen sie zum Beispiel die Fahrstühle nicht mehr benutzen und laufen sieben Stockwerke zu Fuß. Wenn sie die Viertel ihrer Madams oder Sirs betreten, wird nur bei ihnen Fieber gemessen, nicht bei den Anwohnern. Eine Werbung im Internet hat das Stigma der Coronakrise gut auf den Punkt gebracht: Ein Foto mit Händen, die Teig kneten und darüber steht geschrieben:
"Erlauben Sie Ihrer Hausangestellten, den Teig mit den bloßen Händen zu kneten? Diese Hände könnten infiziert sein."
Dann kommt das nächste Foto, mit zwei reichen, lachenden Frauen neben einer Küchenmaschine:
"Gehen Sie bei Ihrer Gesundheit keine Kompromisse ein. Bringen Sie die Küchenmaschine von 'Kent' mit zu Ihnen nach Hause."

Es gibt wieder unzählige "Unberührbare"

Immerhin musste die Werbung nach zahlreichen Protesten wieder aus dem Netz genommen werden. Das Stigma aber bleibt: Gerade in den indischen Städten erinnert die Ausgrenzung der Hausangestellten an schlimme alte Zeiten, die oft in den Dörfern noch Realität sind: Dort dürfen Menschen, die der Kaste der Dalits angehören, die früher die Unberührbaren genannt wurden, nicht das Wasser aus dem gleichen Brunnen trinken, die Häuser der Menschen in höheren Kasten nicht betreten. Diese Menschen dürfen nur die Drecksarbeit machen, Latrinen reinigen und Müll entsorgen.
Nun gibt es also wieder unzählige Unberührbare in den indischen Städten, die das Stigma Corona tragen, ohne dass überhaupt jemand weiß, ob diese Menschen infiziert sind.
Ein Mann im weißen Schutzanzug misst in einer engen Gasse bei einer Frau im rot-gelben Sari die Temperatur.
Ein Beispiel, das Hoffnung macht: In Dharavi, Indiens größtem Slum, bleibt die Neuansteckungsrate dank umsichtigen Behördenhandelns niedrig.© imago / Hindustan Times / Satyabrata Tripathy
Aber es gibt auch gute Beispiele in Indien, die Hoffnung machen. Der größte Slum in Indien liegt in der Finanzmetropole Mumbai. Hier leben fast eine Million Menschen auf einer Fläche, die so groß ist wie der Tiergarten in Berlin. Alle haben davor gewarnt, dass dieser Ort eine tickende Zeitbombe werden könnte, wenn Corona ausbricht: zu viele Menschen auf zu wenig Raum, offene, bestialisch stinkende Abwasserrinnen, Müllberge, soweit das Auge reicht, zu viel Armut und Hunger. Hunderte teilen sich die gleichen öffentlichen Klos.

In Dharavi haben sich die Behörden gekümmert

Soziale Distanz sei hier ein Ding der Unmöglichkeit, sagt Kiran Dighavakar von der Stadtregierung in Mumbai, der sich um die Organisation in Dharavi kümmert. Sein Erfolgsrezept – agieren statt reagieren:
"Anfangs lief es ziemlich holprig, aber dann haben wir die Quarantäne-Stationen optimal ausgestattet. Die Menschen haben drei Mal am Tag etwas zu Essen bekommen. Es war sauber, wir haben Ärzte engagiert, die den Menschen Medikamente gegeben haben."
Die Wachstumrate der Ansteckungen liegt heute bei gerade einmal einem Prozent. Die lokalen Ärzte gehen von Tür zu Tür, sie messen bei mehr als 700.000 Menschen die Temperatur und den Sauerstoffgehalt im Blut. Die Menschen im Slum vertrauen ihren Hausärzten. Sie klären die Menschen persönlich darüber auf, was sie zu beachten haben. Aus der tickenden Zeitbombe ist ein Erfolgsmodell geworden. Statt arme Menschen zu stigmatisieren, sind die Behörden in Dharavi auf sie zugegangen und haben sich gekümmert.
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