"In Vorstädten ist Ablehnung der Herrschaft Assads allgegenwärtig"

Navid Kermani im Gespräch mit Susanne Führer · 18.09.2012
Das starke Bedürfnis vieler Menschen, über Politik zu reden, habe ihn überrascht, sagt der Schriftsteller Navid Kermani, der gerade von einer Syrienreise zurückkommt. Den meisten Menschen gehe es in der Revolution "um Freiheit, um Demokratie und um soziale Gerechtigkeit."
Susanne Führer: Viele der Berichte, die über Syrien gesendet oder gedruckt werden, tragen den Zusatz, dass die Authentizität der Bilder, dass die Angaben nicht geprüft werden konnten. Der Schriftsteller Navid Kermani wollte sich ein eigenes Bild machen. Eine Woche lang war er für die "Zeit" in Syrien unterwegs, und er ist jetzt gerade nach Hause, also nach Köln zurückgekehrt, und dort begrüße ich ihn: Hallo, Herr Kermani!

Navid Kermani: Guten Tag!

Führer: Wie sind Sie denn reingekommen in dieses umkämpfte Land? Konnte man da einfach so einreisen?

Kermani: Na ja, ich hatte vor längerer Zeit ein Visum beantragt und das habe ich dann bekommen. Und als ich es bekam, habe ich es auch genutzt.

Führer: Und konnten Sie sich ganz frei bewegen in dem Land, oder bekamen Sie Bewacher an die Seite gestellt?

Kermani: Nein, ich konnte mich nicht im ganzen Land frei bewegen, sondern da ich oft lang gereist war, bewegte ich mich eigentlich automatisch in den Gebieten, die von der Regierung kontrolliert werden. Aber in diesen Gebieten, jedenfalls in Damaskus konnte ich mich frei bewegen, ich hatte keinen Begleiter. Ich konnte herumfahren, mit Menschen sprechen - also das ging eigentlich ganz gut.

Führer: Noch mal kurz zurück zu dem Visum. Heißt das, im Grunde genommen könnte wirklich jeder nach Syrien fahren, oder sind die da doch etwas restriktiver?

Kermani: Also ich blicke da jetzt nicht so ganz durch, aber ich glaube, die sind schon relativ restriktiv, was die Visa-Politik betrifft. Aber wer jetzt genau warum ein Visum bekommt, also ich kann es mir auch nicht erklären. Aber es gibt durchaus Journalisten, die vor Ort sind.

Das Problem eigentlich, der Grund für meine Reise war auch der, dass es im Augenblick zwei Typen von Berichten gibt. Es gibt entweder Journalisten, die mit der freien Armee meistens über die Türkei einreisen und dann entsprechend auch deren Perspektive haben, dann eben auch über den Krieg berichten. Dann gibt es Journalisten, die meistens für wenige Tage dort sind bei irgendeiner wichtigen Pressekonferenz oder jetzt bei dem Besuch des UNO-Gesandten und eben dort politische Gespräche mit Ministern oder Ähnliches führen.

Ich wollte einfach wissen, wie das Leben in Damaskus ist. Also diese Bewegung hat ja über acht, neun Monate, war es ja ein ziviler Protest, gewaltfrei, mit all den fantasiereichen Mitteln eines gewaltfreien Protestes, mit auch Massenprotesten. Und diese ganzen Hunderttausende, Millionen sind ja nicht einfach in der freien Armee aufgegangen, die sind ja immer noch in Damaskus. Und entsprechend war ich sehr neugierig, zu sehen, was sie jetzt tun.

Führer: Und?

Kermani: Naj ja, ich meine, es ist schwer ...

Führer: Was haben Sie gesehen in Damaskus?

Kermani: Eigentlich ganz, ganz viele unterschiedliche Sachen. Ich habe gesehen, dass im Zentrum, in den, sagen wir, bürgerlichen Kreisen, in der Oberschicht die Stimmung sehr geteilt ist, dass es durchaus immer noch Anhänger gibt der Regierung. Weniger aus Begeisterung für das Regime als vielleicht mehr aus Angst vor dem Chaos, das auf das Regime folgen könnte. Das gilt insbesondere auch für Angehörige der Minderheiten, der Alewiten, der Drusen, der Christen.

Wenn man aber aus diesem bürgerlichen Milieu herauskommt, wo eben, wie gesagt, aber auch sehr viel Protest da ist, also nicht, dass alle dann diese Meinung vertreten. Gerade die jungen Leute sind immer noch sehr, sehr aktiv im Kampf gegen die Regierung. Wenn man aber dann aus diesen Zentren herausfährt, in die ärmeren Gebiete fährt, in die größtenteils sunnitisch bewohnten Vorstädte, dort scheint mir jedenfalls, nach meinem völlig subjektiven Eindruck, scheint mir die Ablehnung der Herrschaft Assads doch sehr, doch praktisch allgegenwärtig zu sein. Dort sprechen alle von Revolution.

Führer: Es ist ja auch ein bisschen logisch, dass die, denen es gut geht, eher dafür sind, dass das Regime bleibt, als die, denen es schlecht geht.

Kermani: Na ja, wenn man andere Revolutionen anschaut, etwa in Ägypten oder auch im Iran in den 70er-Jahren, dann waren es Revolutionen, die aus der Mittelschicht begonnen sind, begonnen wurden, und dann später erst andere Kräfte nach oben geschoben haben. Die Proteste in Syrien begannen ja gerade nicht in den großen Städten, sie begannen eher in der Provinz, in den Vorstädten, und das hat seine ganz klare Ursache darin - natürlich war der Auslöser der arabische Frühling, das heißt, der Mut, seine Meinung zu sagen, gerade in einem Land wie Syrien seine Meinung zu sagen, wo die Meinungsfreiheit nun wirklich nicht existiert hatte.

Der Auslöser war eigentlich auch ganz konkret, merkwürdigerweise, wenn man so will, auch die liberalen Wirtschaftsreformen, die es in den letzten Jahren gegeben hat. Die einerseits zu einem sehr sichtbaren Reichtum einiger weniger geführt haben, zugleich zur weiteren Verelendung einer Masse, die von diesem Reichtum nicht nur nicht profitierte, sondern eben auch den Reichtum überall plötzlich sah. Also dieses, dass man wirklich sah, die Leute werden reich. Es ist eben nicht mehr dieser sozialistische Lack wie unter Hafiz al-Assad. Plötzlich kommen diese ganzen Kommerztafeln und Werbetafeln und schicken Restaurants und Bars und Diskotheken - eigentlich ist Damaskus sogar noch attraktiver geworden für Touristen, aber die meisten Menschen hatten davon sehr wenig. Und ich glaube, dass hier diese soziale Ursache der Revolution, dass die einfach eine sehr, sehr wesentliche ist, und die spiegelt sich eben im Stadtbild ab.

Führer: Der Schriftsteller Navid Kermani erzählt uns im Deutschlandradio Kultur von seiner Syrien-Reise. Herr Kermani, Sie haben es gerade gesagt: also eher eine soziale Revolution. Manche lesen ja den aktuellen Konflikt ja auch als einen religiösen Konflikt. Also Sie haben von den Alewiten gesprochen, die gehören zu der Minderheit eben der Schiiten, die die Oberschicht stellen, und die Mehrheit sind Sunniten. Aber Sie würden es nicht als einen religiösen Konflikt sehen?

Kermani: Na ja, die Regierung versucht alles, es in einen konfessionellen Konflikt zu verwandeln. Sie stellt sich als Schutzmacht der säkularen, der Minderheiten dar, und stellt die Opposition als islamistisch und als fundamentalistisch dar. Nun gibt es gewiss auch fundamentalistische Strömungen innerhalb der Opposition, zumal auch jetzt offenbar nicht in großer Zahl, aber es gibt sie, auch ausländische Extremisten einsickern in das Land. Zumal auch die Golfstaaten, speziell Katar und Saudi-Arabien gezielt Islamisten innerhalb der Revolution, in der revolutionären Bewegung fördern.

Aber mein Eindruck war ganz klar, wenn ich durch Damaskus und vor allem auch in den Außengebieten von Damaskus unterwegs war und auch hier und dort einige andere Reisen unternehmen konnte, mein Eindruck war ganz klar: Es geht hier nach wie vor den meisten Menschen um Freiheit, um Demokratie und um soziale Gerechtigkeit. Das waren die Themen. Und ich habe nicht sehr viele Erinnerungen daran, ich habe das nicht so wahrgenommen, dass hier ein großartiger Hass auf, nicht einmal auf die Alewiten herrscht.

Obwohl, wie gesagt, die Regierung ganz klar diese Karte spielt, indem sie gezielt Sunniten angreift, sunnitische Dörfer, dort Massaker veranstaltet und dafür gezielt, so steht es jedenfalls in den Berichten der Menschenrechtsorganisationen und der Vereinten Nationen, dass sie gezielt alewitische Milizen einsetzt. Das heißt, hier wird gezielt sozusagen dieser konfessionelle Konflikt geschürt, indem man Angehörige einer Minderheit nimmt, die Zivilbevölkerung der Mehrheit zu malträtieren.

Führer: Herr Kermani, Sie haben gerade vom schicken Damaskus gesprochen - kann ich daraus schließen, dass es in Damaskus gar keine Spuren des Krieges gibt?

Kermani: Also man hört den Krieg, weil man die Kanoneneinschläge hört. Und man hat natürlich überall diese Checkpoints in der Stadt. Ansonsten ist das Leben in der Innenstadt und in den eher wohlhabenden Vierteln erstaunlich normal. Die Menschen gehen einkaufen, sie gehen in die Teehäuser und in die Restaurants. Sie gehen ihrer Arbeit nach. Jetzt beginnen auch bald wieder die Universitäten und Schulen. Da wird man sehen, was da wieder an neuen Protesten entsteht, denn die Universitäten waren auch Quellgebiete dieser Revolution. Also wenn man in Damaskus ist und seine Ohren sozusagen verschließen würde und nur auf das Stadtleben achten würde und nicht wüsste, dass Krieg herrscht, dann würde man es in der Innenstadt nicht ohne weiteres merken.

Führer: Sie haben gesagt, die Menschen sehnen sich nach Freiheit, nach Demokratie. Ich habe mich so gefragt, wie offen haben sie eigentlich mit Ihnen gesprochen, die Syrer. Denn zurzeit ist ja Baschar al-Assad der Präsident, davor, sein Vater, Hafiz Al-Assad, hatte ja eine der grausamsten Diktaturen der Welt überhaupt errichtet, und Meinungsfreiheit war sehr gefährlich.

Kermani: Also das hat mich selber sehr überrascht, dass wirklich es ein großes Bedürfnis gibt, über Politik zu sprechen, und zwar bei allen Seiten. Es ist ja nicht so, dass die Anhänger des Regimes alle durchgeknallte sozusagen Radikale wären, die jetzt den Terror lieben. Sondern die haben ja auch ihre Gründe, die ich vielleicht nicht so überzeugend finde - aber sie haben ihre Gründe und sind sehr interessiert und sehr, sehr motiviert, einem Ausländer auch zu erklären, warum sie, vielleicht bei aller Kritik im Einzelnen, glauben, dass die herrschende Ordnung erst einmal weiter dauern sollte, damit eben dieses Chaos, damit die religiöse Gewalt nicht entsteht.

Und andererseits, wenn ich in der Stadt herumfuhr, hat es mich sehr erstaunt, dass ich Dissidenten an öffentlichen Orten treffen konnte, also in Cafes, die auch gesagt haben, ich könne ihren Namen nennen. Also gleich nach der Anzahl ihrer Gefängnisjahre. Und wenn ich im Taxi saß, das war eigentlich für mich so die beste Möglichkeit, mit Syrern in Kontakt zu kommen, weil die Taxifahrer in der Mitte der Stadt herumfahren, aber oft an den Rändern der Stadt wohnen. Viele dieser Taxifahrer haben sofort angefangen zu erzählen, zu sprechen, haben mich mitgenommen in ihre Wohngebiete oder dort, wo sie einmal wohnten und wo - die jetzt verwüstet sind. Und das hat mich erstaunt, dass auf dieser Ebene die Furcht nicht mehr da ist, also nicht mehr da ist wie in dem Syrien, das ich kannte.

Führer: Wenn ich Sie recht verstehe, dann hält sich Assad zurzeit eigentlich nur noch militärisch und nicht politisch an der Macht.

Kermani: Das wäre jetzt vielleicht etwas zu einseitig formuliert. Weil er hat natürlich Unterstützung. Es ist nicht so, dass sozusagen die gesamte Bevölkerung gegen ihn ist, ich glaube sogar, dass er in seinem eigenen Milieu, also unter den Alewiten sowieso, die ja die Herrschaftselite bilden, aber auch unter, sagen wir, der Wirtschaftselite, in bürgerlichen Kreisen, da ist die Unterstützung immer noch beträchtlich, das darf man, glaube ich, nicht unterschätzen.

Aber natürlich, das Hauptmittel im Augenblick ist das Militär, ist der Sicherheitsapparat. Und da muss man aber sagen, dass der Kampf, dass er da keineswegs verloren hat bis jetzt. Die freie Armee, nach meinem Eindruck, ist militärisch keineswegs so stark, auch nicht so gut ausgestattet, um diese Krise militärisch zu lösen. Also da, glaube ich, hat das Regime, glaube ich, noch einen langen Atem, wenn dieser Konflikt nur militärisch fortdauern würde.

Führer: Der Schriftsteller Navid Kermani ist soeben von einer Syrien-Reise zurückgekehrt. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Kermani!

Kermani: Bitte schön!

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