"In Niedersachsen stehen die Zeichen auf Wechsel"

Stephan Weil im Gespräch mit Carsten Burtke und Martin Steinhage · 10.11.2012
Bei einem Wahlsieg wolle er vor allem mehr in die Bildung investieren, sagt Stephan Weil, der am 20. Januar 2013 als SPD-Spitzenkandidat bei der Landtagswahl in Niedersachsen antritt. Um dafür ausreichend finanziellen Spielraum zu haben, ist er für eine Anhebung des Spitzensteuersatzes.
Deutschlandradio Kultur: Herr Weil, noch vor einem Vierteljahr kannten Sie gerade einmal 40 Prozent der Niedersachsen. Warum sollen die Leute jemanden wählen, den sie gar nicht kennen?

Stephan Weil: Nun, zum Wahltag werden es deutlich mehr sein. Da bin ich mir absolut sicher. Und es gibt ganz viele gute Gründe für den Regierungswechsel in Niedersachsen. In Niedersachsen stehen die Zeichen auf Wechsel. Und ich arbeite sehr intensiv daran, dass sie damit auch mein Gesicht gewissermaßen als das Gesicht für den Wechsel verbinden.

Deutschlandradio Kultur: Zur Wahl stehen Parteien und deren Programme. Wahlentscheidend sind jedoch immer Köpfe und das sind in aller Regel die Köpfe der Spitzenkandidaten. Regierungschef David McAllister von der CDU ist in Niedersachsen sehr bekannt und recht beliebt. Wie wollen Sie da gegenhalten?

Stephan Weil: Wenn ich das vergleiche mit anderen Spitzenkandidaten und anderen Bekanntheitswerten, dann fällt mir bei Herrn McAllister auf, dass die Zustimmung für ihn durchaus bescheiden ist und nicht wachsend, sondern eher abnehmend. Umgekehrt heißt das für mich übrigens, diejenigen, die mich kennen, bewerten meine Arbeit offenbar sehr positiv, was mich einerseits freut und mir Mut macht, dass diejenigen, die mich erst noch kennenlernen werden, auch diese positive Schlussfolgerung ziehen werden. Das ist mein Ziel in den verbleibenden zehn Wochen.

Deutschlandradio Kultur: Vor rund einem halben Jahr hat der Kieler Oberbürgermeister Torsten Albig als SPD-Spitzenkandidat die Landtagswahl in Schleswig-Holstein gewonnen und den CDU-Ministerpräsidenten vom Thron gestoßen. Herr Weil, ist Albig, der Ex-Stadtchef mit Macher-Image Ihr aktuelles Vorbild?

Stephan Weil: Nein, ein Vorbild nicht, aber ein langjähriger Kollege. Er war Stadtkämmerer in der Landeshauptstadt von Schleswig-Holstein.

Deutschlandradio Kultur: So, wie Sie in Hannover.

Stephan Weil: Genau. Er war Oberbürgermeister der Landeshauptstadt von Schleswig-Holstein, so wie ich. Er hat es geschafft, eine schwarz-gelbe Regierung abzulösen. Das ist mein Ziel. Und das ist dann übrigens auch im September das Ziel von Christian Ude. Denn wir sind, wenn Sie so wollen, drei Musketiere, die als sozialdemokratische Oberbürgermeister losgezogen sind.

Deutschlandradio Kultur: Herr Weil, bevor wir über die Inhalte Ihrer Politik reden, lassen Sie uns noch einen Moment bei den Personen bleiben. Bei Ihrem Schattenkabinett fällt zweierlei auf. Es ist überwiegend weiblich und es setzt auf Kandidaten aus Niedersachsen. Prominente sozialdemokratische beziehungsweise der SPD nahestehende Importe gibt es bei Ihnen nicht. Haben Sie außerhalb der Landesgrenzen niemanden gesucht oder haben Sie niemanden gefunden?

Stephan Weil: Mir geht es tatsächlich darum, dass ich sehr profilierte Persönlichkeiten aus Niedersachsen in die nächste Regierung hineinbekomme. Niedersachsen hat viel zu bieten, auch und gerade personell. Es ist richtig, fünf Frauen und vier Männer, das ist mein Team. Und damit verbinde ich die klare Ansage, wir dürfen über die Gleichstellung der Geschlechter, über Frauen in Führungspositionen nicht immer nur reden, sondern wir müssen machen. Und das habe ich vor und das habe ich, glaube ich, jetzt auch gezeigt.

Deutschlandradio Kultur: Herr Weil, wir haben dieses Gespräch aufgezeichnet. Denn während das Interview jetzt gerade im Radio läuft, haben Sie gar keine Zeit mit uns zu reden. Da läuft nämlich in Wolfsburg unter Ihrem Vorsitz ein Landesparteitag, bei dem der Entwurf des SPD-Regierungsprogramms verabschiedet wird.

Sie setzen in diesem Programm, das ist ja schon bekannt, sehr stark auf das Thema Bildung. Warum gerade darauf und warum nicht zum Beispiel auf neue Arbeitsplätze oder auf soziale Sicherung, alles große Themen?

Stephan Weil: Wissen Sie, das wichtigste Thema, das wir in Niedersachsen haben, das sind die Veränderungen in der Bevölkerung. Niedersachsen steht vor einem herben Bevölkerungsrückgang. Es gibt manche Bereiche, die wachsen zwar noch, aber große Teile des Landes haben wirklich einen drastischen Rückgang der Bevölkerung vor sich. Da gibt es eine ganz klare Schlussfolgerung: Wenn wir schon weniger junge Leute künftig haben, müssen diejenigen, die in Niedersachsen sind, optimal gefördert und entwickelt werden.

Wir haben in der niedersächsischen Bildungspolitik große, große Baustellen. Wir sind bei der Krippenversorgung hinten. Wir sind Spitzenreiter bei den Schulabsteigern. Wir sind weit unterschiedlich mit Ganztagsschulen. Und da müssen wir anknüpfen. Das ist wirklich eine Zukunftsfrage für das Land insgesamt, vor allem aber für ganz viele Regionen in Niedersachsen.

Deutschlandradio Kultur: Nun haben Sie aber in Niedersachsen so wie in vielen anderen Ländern auch eine große Zahl an älteren Mitmenschen. Da spielt doch aber das Thema soziale Sicherung eine große Rolle.

Stephan Weil: Sicher. Deswegen reden wir beispielsweise auch über das Thema Pflege sehr intensiv. Sie müssen sich das zum Beispiel vorstellen: Die Pflegeentgelte für Pflegekräfte sind in Niedersachsen bundesweit an der vorletzten Stelle. Das heißt, Pflegekräfte in Niedersachsen werden besonders schlecht bezahlt. Da darf man sich dann auch nicht wundern, wenn wir jetzt schon einen Pflegekräftemangel haben, der für die Zukunft dramatische Ausmaße annehmen könnte.

Das ist ein Beispiel für den engen Zusammenhang zwischen Bundespolitik und Landespolitik. Ich werde mich wirklich mit allem Nachdruck dafür einsetzen, dass wir zu einer angemessenen Bezahlung von sozialer Arbeit gelangen.

Deutschlandradio Kultur: Das aber kostet Geld. Und im Übrigen ist Bildung ja auch fraglos kostbar, aber sie kostet eben auch sehr viel Geld. Niedersachsen hat jedoch bereits heute rund 60 Milliarden Euro Schulden. Auch der nächste Landeshaushalt wird nicht ohne eine Neuverschuldung auskommen. Was genau haben Sie im Bereich Bildung vor, und wie wollen Sie das eigentlich bezahlen?

Stephan Weil: Zu Ihrer Vorbemerkung: John F. Kennedy hat einmal gesagt, "es gibt nur eines, was teurer ist als Bildung: Keine Bildung". – Und das gilt im Bereich Niedersachsen ganz besonders. Das ist für uns wirklich eine Zukunftsfrage. Deswegen müssen wir uns darauf konzentrieren.

Es ist richtig, Bildung findet durch Menschen statt. Und Menschen kosten Geld, wenn sie arbeiten. Das gilt in der frühkindlichen Förderung genauso wie in den Ganztagsschulen, um nur einmal zwei Beispiele zu nennen. Die Spielräume müssen wir uns zum einen hart erarbeiten. Ich werde wirklich eine sehr konsequente Aufgabenkritik im niedersächsischen Landeshaushalt vornehmen. Zum anderen werden wir sehen, wie die wirtschaftliche Entwicklung weiter verläuft. Und zum dritten mache ich überhaupt kein Hehl daraus: Wir müssen jetzt in die Zukunft investieren. Das ist die Aufgabe dieser Generation, die jetzt letztlich am Drücker sitzt. Deswegen bin ich beispielsweise auch für eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes. Das ist, glaube ich, für die Betreffenden gut vertretbar. Ich rede da weniger von dem Begriff der Reichensteuer. Der gefällt mir gar nicht. Ich rede aber gerne von einem Bildungssoli.

Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir noch mal kurz bei den Kosten. Bei Bund und Ländern gilt demnächst eine Schuldenbremse. Welchen finanziellen Gestaltungsspielraum hat ein Land wie Niedersachsen denn überhaupt noch? Oder wollen Sie die Schuldenbremse schlichtweg ignorieren?

Stephan Weil: Nein, nicht nur, weil die Schuldenbremse geltendes Recht ist ...

Deutschlandradio Kultur: ... aber Sie können sie ja bis 2020 sozusagen noch strecken und die nächste Legislatur geht für Sie bis 2018. Sie können also sagen, dann machen wir es nach 2018.

Stephan Weil: Wenn es nach mir geht, dann will ich die Schuldenbremse gerne so schnell wie irgend möglich und verantwortbar erreichen. Verantwortbar heißt allerdings auch, dass wir es zeitgleich schaffen müssen, in die Zukunft zu investieren, insbesondere im Bereich Bildung.

Ich bin ein Befürworter der Schuldenbremse. Sie sagten ja mit Recht, ich war lange Stadtkämmerer. Da weiß man schon, was für eine fatale Wirkung zu hohe öffentliche Schulden haben können. Und in Niedersachsen haben wir zu hohe Schulden, gar keine Frage. Von 40 auf 60 Milliarden in nur 10 Jahren, das ist wirklich ein Sprung um 50 Prozent.

Wir werden alles dagegensetzen, was wir tun können. Aber, wie ich bereits gesagt habe, ich setze auch darauf, dass nach und nach Einsicht in Berlin einkehrt, hoffentlich spätestens nach der nächsten Bundestagswahl, und klar wird: Wir können es uns nicht leisten, an der Zukunft zu sparen. Wir müssen auch den Ländern die Spielräume verschaffen, damit sie wiederum ihre Bildung vorantreiben können.

Deutschlandradio Kultur: Herr Weil, Sie haben es eben schon in einem Nebensatz gesagt. Zum Thema Bildung gehört auch die Krippenplatzproblematik, die in dieser Woche eine große Rolle in der innenpolitischen Debatte spielte. Hintergrund zur Erinnerung: Ab August 2013 haben Eltern einen Rechtsanspruch darauf, dass ihr unter dreijähriges Kind einen Krippenplatz erhält. In den meisten Bundesländern und Kommunen gibt es aber noch viel zu wenige Betreuungsplätze für die Kleinen. Wie weit sind Sie da als Oberbürgermeister in Hannover und wie weit ist man insgesamt in Niedersachsen? Die CDU sagt ja, das haben wir dieser Tage gehört, "das kriegen wir noch alles hin bis August".

Stephan Weil: Das ist ein frommer Wunsch, fürchte ich. In Hannover, wo ich Verantwortung trage, sind wir derzeitig bei 45 Prozent. Landesweit sind wir bei 28 Prozent. Das macht vielleicht auch schon mal Unterschiede deutlich.

Ich mache mir tatsächlich große Sorgen, dass in weiten Teilen Niedersachsens der Rechtsanspruch nicht erfüllt werden wird. Das ganze Gesetz ist ja gewissermaßen am grünen Tisch entstanden, ohne dass man mit den Kommunen auch nur geredet hätte. Und die 35 Prozent, von denen man damals ausgegangen ist, das wissen heute alle, waren viel, viel zu niedrig. Wenn ich durch große niedersächsische Landkreise fahre und frage, wie viel werdet ihr brauchen für einen bedarfsgerechten Ausbau, dann höre ich "40 Prozent plus X", in den Großstädten natürlich noch mehr.

Wir haben da viel Zeit vertan. Wir müssen als Land Niedersachsen die Kommunen, die sich in einer argen Finanzkrise befinden, deutlich stärker unterstützen. Aber es geht nicht nur um Geld. Es geht auch beispielsweise um Fachkräfte. Es gibt in Niedersachsen zu wenig Fachkräfte. Das Land es sträflicherweise unterlassen, an dieser Stelle überhaupt eine Planung zu beginnen. Das muss die neue Landesregierung nach dem Regierungswechsel so schnell wie möglich in Angriff nehmen.

Deutschlandradio Kultur: Aber der Anspruch auf den Betreuungsplatz ist nun in der Welt. Und die Bundesfamilienministerin will davon auch nicht abrücken. Das bedeutet, es droht ab dem nächsten Sommer eine Klagewelle frustrierter Eltern. Wie können die Kommunen das Problem noch lösen und was kann und muss die Landespolitik dazu beitragen?

Stephan Weil: Das ist eine wirklich schwierige Frage. Die Kommunen sind, ich sagte es, gar nicht erst gefragt worden, bevor dieses Gesetz geschnitzt wurde. Das war wirklich ein schlimmer Fehler.

Deutschlandradio Kultur: Das ist aber fünf Jahre her. Man hatte Zeit.

Stephan Weil: Wissen Sie, wenn Sie mit vielen Bürgermeistern sprechen, dann begegnen Sie Menschen, die ringen tatsächlich um jeden Krippenplatz. Aber sie können sich die Fachkräfte auch nicht schnitzen. Und die müssen dafür ringen, dass die geeigneten Standorte gefunden werden. Das ist gerade in den Städten übrigens ein Riesenthema, das häufig unterschätzt wird. Also, ich wehre mich dagegen, dass jetzt der schwarze Peter den Kommunen zugeschoben wird. Dieses Gesetz haben Bund und Länder zu verantworten. Und ich erwarte auch, dass Bund und Länder die Haftung mit übernehmen, wenn der Staat ein Versprechen nicht halten kann, das er den Eltern gegeben hat.

Deutschlandradio Kultur: Herr Weil, ein ganz wichtiges Thema in Deutschland ist die Energiewende. Nachdem unter dem Eindruck von Fukushima alle Welt für den raschen Ausstieg war, setzt nunmehr bei vielen die Ernüchterung ein – nicht zuletzt wegen der weiter dramatisch steigenden Strompreise. Was muss geschehen, damit die Energiewende gelingt? Und was könnten Sie als Ministerpräsident dazu beitragen, außer vielleicht Schuldzuweisungen an die Adresse der Bundesregierung?

Stephan Weil: Für Niedersachsen ist die Energiewende mit einer großen Chance verbunden. Wir haben das Potenzial, Energieland Nummer Eins in Deutschland zu werden. Das hängt damit zusammen, dass wir das Küstenland sind, dass von dort der Wind durch die norddeutsche Tiefebene pfeift und wir damit natürlich hervorragende Ausgangsbedingungen für die wirtschaftlichste der erneuerbaren Energien haben, nämlich für die Windkraft.

Im Moment erleben wir ein relatives Desaster, denn die Energiepolitik ist derzeit eher ein Energiechaos. Es gibt kein Projektmanagement der Bundesregierung. Es gibt keinen Plan. Das bereitet mir große Sorgen und wir sehen das auch ganz praktisch. An der Küste gehen derzeit viele hundert Arbeitsplätze in der Offshore-Industrie möglicherweise kaputt, weil die Rahmenbedingungen völlig unbekannt sind und die Investoren total verunsichert sind.

Was Niedersachsen, was auch die anderen Bundesländer dazu beitragen müssen, ist derzeit, maximal Druck auf die Bundespolitik zu machen, endlich einen Plan, endlich ein Projektmanagement zu installieren. Denn die Bundesländer werden ganz am Ende die Energiewende nicht zum Erfolg bringen können. Die Rahmenbedingungen werden in Berlin gesetzt. In Niedersachsen werden wir darum ringen, dass mehr Windkraftstandorte ausgebaut werden. Wir werden darum ringen, dass die Energieleitungen, die durch unser Land laufen sollen, sehr schnell und sehr zügig auch tatsächlich installiert werden. Aber – noch einmal – die Spielregeln, die werden in Berlin festgelegt.

Deutschlandradio Kultur: Die Spielregeln werden in Berlin auch zu einem guten Teil festgelegt, was die Standortfrage angeht für ein Endlager für hochradioaktiven Müll; da wird ja weiter gesucht und es wird weiter gestritten. Bundesumweltminister Altmeier von der CDU will in einem solchen Endlagersuchgesetz keinen Standort von vornherein ausschließen. Sie, Herr Weil, sagen dagegen klipp und klar: Sucht, wo ihr wollt, aber sucht nicht mehr in Gorleben. Warum sind Sie da eigentlich so kompromisslos? Bekommen Sie nur mit dieser rigorosen Haltung die Grünen in Niedersachsen in ein rot-grünes Regierungsbündnis?

Stephan Weil: Nein, das ist für mich keine taktische Frage. Wenn Sie mir den uncharmanten Ausdruck erlauben, Niedersachsen ist ja derzeit das "Atomklo" der Bundesrepublik Deutschland. Und wir haben mit der Asse wirklich ein abgesoffenes Bergwerk, wo völlig verantwortungslos strahlender Müll entsorgt worden ist. Das ist mit einer wirklich ernsthaften Grundwassergefährdung für die anliegende Bevölkerung verbunden – ganz schlimm. Da muss man mal unten gewesen sein, um sich das wirklich klar gemacht zu haben.

In Gorleben haben wir seit Jahrzehnten Auseinandersetzungen. Und seitdem ist der Streit nicht weniger geworden. Mit Streit meine ich gar nicht so sehr den politischen Streit, sondern den Streit unter den Fachleuten, unter den Geologen. Es gibt sehr unterschiedliche Auffassungen seitens der Experten, ob der Salzstock in Gorleben überhaupt ein sicheres Endlager sein kann.

Und ich meine, ein Endlager, das gefunden wird, muss über jeden geologischen Zweifel erhaben sein. Das werden wir bei Gorleben nicht erleben. Deswegen sage ich klipp und klar, ich stehe auch dazu: Auch in Niedersachsen muss ein Endlagerstandort theoretisch möglich sein, aber es darf nach allem, was ich weiß, nicht Gorleben sein.

Deutschlandradio Kultur: Herr Weil, die Grünen sitzen im Landtag in Hannover seit 18 Jahren auf den Oppositionsbänken. Sicher ist, dass die Grünen in den Landtag einziehen werden, sicherlich auch zweistellig. Sicher ist auch, dass die SPD einen Koalitionspartner brauchen wird. Stehen Sie eigentlich allein für Rot-Grün, oder wären Sie auch für andere Koalitionen offen?

Stephan Weil: Ich kämpfe für Rot-Grün. Wir haben in Niedersachsen auch wirklich sehr, sehr gute Aussichten, dass wir zu einer eigenen stabilen rot-grünen Mehrheit im nächsten niedersächsischen Landtag gelangen werden. Und dafür rackere ich mich derzeit Tag für Tag ab und viele, viele andere machen das ganz genauso.

Im Übrigen, habe ich aber gesagt, leide ich nicht unter Ausschlusseritis. Man wird sich jetzt einfach die Wahlergebnisse anschauen müssen und bis zum 20. Januar verschwende ich meine Zeit und auch meine Phantasie nicht auf Spekulationen, sondern arbeite ganz praktisch und hart daran, dass wir zu einer rot-grünen Mehrheit kommen.

Deutschlandradio Kultur: Aber es wäre für Sie, verstehe ich Sie richtig, alles denkbar, auch eine Große Koalition unter Amtsinhaber McAllister?

Stephan Weil: Wissen Sie, warum soll ich mich jetzt mit solchen Spekulationen abplagen, wenn mein Ziel in greifbarer Nähe ist. Und im Übrigen weiß, glaube ich, jeder, der mich kennt: Ich bin kein Freund von Großen Koalitionen.

Deutschlandradio Kultur: Aber trotzdem, es ist doch nicht allein persönlicher Sympathie geschuldet, dass sich Amtsinhaber McAllister und Sie als Herausforderer bislang ja wohl eher stets freundlich zurückhaltend begegnen, eben weil man möglicherweise am Tag X, nämlich sehr bald im Januar, dann schon auf eine Zusammenarbeit angewiesen sein könnte.

Stephan Weil: Ach, was mich angeht, gehe ich eigentlich nach Möglichkeit auf jeden Menschen freundlich und zurückhaltend zu. Und die Niedersachsen mögen, glaub ich, keine politischen Wirtshausschlägereien.

Deutschlandradio Kultur: Im Moment spricht einiges dafür, dass im nächsten Landtag in Hannover mit SPD, CDU und Grünen nur drei Fraktionen sitzen werden, nicht aber die FDP, nicht die Piraten, nicht die Linkspartei. Falls es von diesen Wackelkandidaten doch noch der eine oder andere schaffen sollte, würden Sie eine Koalition oder auch nur eine Duldung mit einer dieser Parteien bereits heute ausschließen?

Stephan Weil: Ich habe ja schon gesagt, ich leide nicht unter Ausschlusseritis, was umgekehrt auch heißt, dass ich heute keine einzige Option, über die andere sich derzeit den Kopf zerbrechen, ausschließen muss. Lassen Sie uns doch jetzt einfach kräftig kämpfen für eine anständige rot-grüne Mehrheit im nächsten niedersächsischen Landtag. Dann erübrigen sich solche Gedankenspiele.

Deutschlandradio Kultur: Die nächste wichtige Wahl nach der in Niedersachsen ist dann bereits die Bundestagswahl im Spätsommer. Ist das eigentlich für Sie eine zusätzliche Belastung zu wissen, "von meinem Ergebnis kann auch viel für die Bundespartei abhängen"?

Stephan Weil: Ich wusste das ja von Anfang an und es macht, offen gestanden, auch einen Teil meiner Motivation aus. Ich arbeite jetzt 25 Jahre sehr intensiv in der kommunalen Selbstverwaltung. Ich habe doch gesehen, wie sehr die Rahmenbedingungen des Staates die Gesellschaft verändern – zum Positiven, aber meistenteils eben auch zum Negativen. Und ich möchte mit einem Wahlsieg in Niedersachsen dazu beitragen, dass wir auch die Voraussetzungen für einen Politikwechsel in Berlin tatsächlich hinbekommen. Dafür gibt es zahllose Beispiele. Wir haben ja über die Energiepolitik schon gesprochen.

Deutschlandradio Kultur: Herr Weil, Sie werden unabhängig vom der Wahl Ihr Amt als Oberbürgermeister von Hannover aufgeben. Das heißt, demnächst sind Sie entweder im Landtag in Regierungsverantwortung bzw. Mitverantwortung oder aber Oppositionschef. Kanzlerkandidat Steinbrück dagegen setzt allein auf Sieg. Als Vizekanzler, so sagt er, stünde er nicht zur Verfügung. Ist das klug?

Stephan Weil: Es ist konsequent. Peer Steinbrück ist jemand, der eine gerade Furche zieht. Und er zieht seine Furche ganz persönlich. Und meinerseits habe ich ebenfalls eine gerade Furche gezogen. Ich mache die Operation Wahlsieg im Land Niedersachsen ohne Rückfahrschein.

Deutschlandradio Kultur: Mit Peer Steinbrück hat die SPD einen Kanzlerkandidaten, der sich mit Vorträgen und Publikationen eine goldene Nase verdient hat, während er als Bundestagsabgeordneter nicht übermäßig viel Einsatz zeigte. Das nehmen die Wähler offenkundig übel. Mal ehrlich, Herr Weil, hat die SPD da auf das falsche Pferd gesetzt?

Stephan Weil: Peer Steinbrück hat wirklich eine hohe Kompetenz und auch Autorität in den entscheidenden Fragen der deutschen Politik in den nächsten Jahren, vor allen Dingen im Bereich Finanzen und Wirtschaft. Dass er sich an die Regeln gehalten hat, ist unbestritten. Und wenn Sie mir die Bemerkung gestatten, dass Banken auch noch Geld dafür zahlen, dass Peer Steinbrück ihnen die Leviten liest, das finde ich gar nicht verkehrt.

Deutschlandradio Kultur: Das heißt, Peer Steinbrück war auch Ihr Kandidat?

Stephan Weil: Ich werde jetzt nicht nachträglich die K-Frage stellen.

Deutschlandradio Kultur: Gäbe es da nicht noch jemanden in Niedersachsen?

Stephan Weil: Es gibt ganz viele in Niedersachsen, acht Millionen sind wir insgesamt. Aber die Entscheidung ist gefallen. Ich finde sie auch gut. Ich finde, Peer Steinbrück ist ein hervorragender Kanzlerkandidat und ich freue mich darauf, dass wir gemeinsam in Niedersachsen auch Wahlkampf machen werden.

Deutschlandradio Kultur: Herr Weil, wenn Sie mir das gestatten, Sie verstehen es schon ganz hervorragend, sozusagen auf konkrete Fragen relativ unkonkret zu antworten. Jetzt versuchen wir es noch mal mit einer ganz konkreten ...

Stephan Weil: ... upps, das tut mir aber leid.

Deutschlandradio Kultur: Ja, jetzt an dieser Stelle, wenn es um die Bundes-SPD geht. Wir haben dafür Verständnis, aber Sie verstehen auch, dass wir es jetzt noch mal versuchen: Also, in der SPD im Bund wie in den Ländern wird heftig darüber debattiert, ob die Agenda 2010 nun richtig war oder noch immer ist, oder ob sie eventuell nachgebessert werden sollte, zum Beispiel beim Thema Rentenpolitik. Wo stehen Sie eigentlich in diesem ganzen Fragenkomplex?

Stephan Weil: Erfreulicherweise ist ja mittlerweile dieser große Streit um die Agenda 2010 Geschichte. Alle Experten sagen, ohne diese Strukturänderung hätten wir wahrscheinlich längst nicht den wirtschaftlichen Erfolg in Deutschland, den wir derzeit haben, haben können. Gleichzeitig sagen auch die Autoren der Agenda 2010: Natürlich war damals nicht an allen Details alles richtig. Natürlich hätte man beispielsweise den Mindestlohn mit einbeziehen sollen in eine solche wirklich große, große Strukturreform.

Und was die Rente mit 67 angeht, da kommt es jetzt darauf an, dass man auch die tatsächlichen Voraussetzungen dafür schafft, dass Menschen bis 67 arbeiten können. Denn ansonsten wäre es eigentlich nichts anderes als eine Rentenkürzung. Das kann nicht im Sinne der Erfinder sein. Ich hoffe, das war jetzt konkret genug für Sie, oder?

Deutschlandradio Kultur: Das war schon etwa konkreter, aber uns immer noch nicht konkret genug. Was würden Sie denn ändern an der Agenda 2010?

Stephan Weil: Wenn wir uns die Rente mit 67 anschauen, müssen wir zum Beispiel jetzt massiv Druck darauf machen, dass wir aus dieser Vielzahl von prekären Beschäftigungsverhältnissen, insbesondere den Minijobs und den Dumpinglohn-Arbeitsverhältnissen wieder reguläre sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse machen. Denn das ist die Altersarmut von morgen.

In meiner Bürgersprechstunde als Bürgermeister erlebe ich immer wieder Menschen, die haben ihr ganzes Leben lang hart gearbeitet und heute sind sie auf Grundsicherung angewiesen. Die zeigen mir dann, was sie gemacht haben in ihrer Erwerbstätigkeit. Und das sind genau die Erwerbsbiografien, die wir jetzt – ja, man kann sagen – millionenfach drohen zu bekommen. Deswegen liegt die Entscheidung über die Rentenfrage weniger ab dem 65. oder ab dem 67. Lebensjahr, sondern sie liegt in den Jahrzehnten davor. Leute brauchen sichere sozialversicherungspflichtige und anständig bezahlte Jobs.

Deutschlandradio Kultur: Herr Weil, es heißt, Sie mussten überredet werden, für die parteiinterne Wahl des SPD-Spitzenkandidaten überhaupt zur Verfügung zu stehen. Das haben Sie dann getan. Sie haben auch gewonnen. Kann man in der Politik eigentlich ganz nach vorne kommen ohne den unbedingten Willen zur Macht? Oder haben Sie den durchaus?

Stephan Weil: Wenn ich mich entschieden habe, dann habe ich diesen Willen, und zwar sehr ausgeprägt. Ich habe bis jetzt persönlich eigentlich immer alle meine Ziele erreicht, die ich mir vorgenommen hatte. Und derzeit sieht es so aus, als ob das auch in Sachen Landtagswahlen so sein wird. Ich arbeite dran, die Serie aufrecht zu erhalten.

Deutschlandradio Kultur: Hegen Sie eigentlich bundespolitische Ambitionen oder halten Sie es da mit Ihrem Widersacher David McAllister, der stets betont, außer Niedersachsen komme in der Politik für ihn nichts anderes infrage?

Stephan Weil: Sachlich habe ich in der Tat bundespolitische Ambitionen. Denn wie wir in Niedersachsen vorankommen, das hängt insbesondere auch davon ab, ob die Bundespolitik in die richtige Richtung geht. Noch einmal: Stichwort Energiewende, eigentlich im Moment das Beste Beispiel dafür. Und persönlich sehe ich meinen Platz in Niedersachsen.

Deutschlandradio Kultur: Letzte Frage, Herr Weil: Sie sind seit über 40 Jahren Fan der Fußballer von Hannover 96 ...

Stephan Weil: ... 45 sogar.

Deutschlandradio Kultur: Seit 45 Jahren. Das waren ja nicht immer nur schöne Jahre, aber zurzeit ist es ja sehr schön, nicht wahr: Die 96er etablieren sich gerade als Nummer Eins im Norden, so nach dem Motto, "das Beste kommt noch". Könnte das auch ihr ganz persönlicher Leitspruch sein oder noch werden?

Stephan Weil: Also, im Vergleich zur amtierenden Landesregierung würde ich das tatsächlich für mich in Anspruch nehmen. Aber im Ernst: Hannover 96 macht mir derzeit eine Menge Freude. Und das war auch wirklich nicht immer so. Ich kann mich noch an die 70er-Jahre erinnern, das große Niedersachsenstadion in Hannover und 500 Zuschauer beim Hit Hannover 96 gegen Rot-Weiß Lüdenscheid. Das haben wir zum Glück lange hinter uns gelassen.

Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank, Herr Weil

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Die Mitglieder des SPD-Schattenkabinetts in Niedersachsen: Birgit Honé, Anke Pörksen, Cornelia Rundt, Gabriele Andretta, Olaf Lies, Stephan Weil, Boris Pistorius, Frauke Heiligenstadt , Detlef Tanke und Peter-Jürgen Schneider
Die Mitglieder des SPD-Schattenkabinetts in Niedersachsen: Birgit Honé, Anke Pörksen, Cornelia Rundt, Gabriele Andretta, Olaf Lies, Stephan Weil, Boris Pistorius, Frauke Heiligenstadt , Detlef Tanke und Peter-Jürgen Schneider.© picture alliance / dpa / Jochen Lübke
Ein Bergmann arbeitet in 750 Meter Tiefe in der Schachtanlage Asse in Remlingen bei Wolfenbüttel in einem Kontrollbereich mit kontaminierter Lauge.
Weil: "Wir haben mit der Asse ein abgesoffenes Bergwerk, wo völlig verantwortungslos strahlender Müll entsorgt worden ist."© AP
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