In die Lücken des Textes gucken

Von Thomas Klatt · 16.08.2013
Der Bibliolog ist eine Methode, bei der die Teilnehmenden ihre Meinungen und Empfindungen zu einer Bibelstelle äußern und aufeinander reagieren. Diese Form der Textauslegung wird vor allem in christlichen Gruppen verwendet, ist aber jüdischen Ursprungs.
Die Vorbereitungen zum Bibliolog sind einfach. Ein Stuhlkreis, die Bibelstelle markieren, vielleicht noch für etwas frische Luft sorgen. Iris Weiss lädt ein zum "Interreligiösen Bibliolog":

"Bibliolog gibt es seit 25 Jahren und wurde in Amerika entwickelt von Peter Pitzele und seiner Frau Susan. Er ist Jude, sie anglikanische Christin. Und Bibliolog hat seine Wurzeln im Psychodrama, in der Literaturwissenschaft und in der jüdischen Hermeneutik."

Iris Weiss selbst ist Jüdin. In mehrjährigen Seminaren hat sie sich zur Bibliolog-Leiterin ausbilden lassen. Kommen kann jeder, egal welcher Religion er angehört. Einzige Voraussetzung ist die Begeisterung für den Text, so schon in der Gründungsgeschichte des Bibliologs in Amerika.

"Peter Pitzele hat als Psychodrama-Therapeut an einer Klinik gearbeitet und sein Mentor hat an einem Rabbinerseminar für konservative Rabbinerinnen und Rabbiner ein Seminar gegeben. Das würde man hier pastorale Beratung nennen. Und der Mentor bat ihn, ihn an einem Termin zu vertreten. Und er dachte, was kann ich denn? Ich kann mit Texten umgehen und ich kann Rollenspiel, durchs Psychodrama. Umgang mit Konflikten. Und er bat die Studenten Stellen aus der Thora rauszusuchen, wo Mosche Konflikte hat. Peter Pitzele hat sie dann in Rollen hinein gewiesen und sie haben in diesen Rollen geantwortet. Und am Ende dieser Stunde sagte dann einer der Studenten: Wow, that was midrasch!"

Bibliolog ist also im Grunde Midrasch. Zentral sind die Begriffe des schwarzen und weißen Feuers. Es geht darum, zu entdecken und zu erfahren, was zwischen den Zeilen steht.

"Das kommt aus der jüdischen Tradition, die Rede von dem weißen und dem schwarzen Feuer. Gemeint ist damit, in der Thora-Rolle haben wir die schwarzen Buchstaben und zwischen den Buchstaben ist das Weiße. Der Text ist eben nur lesbar auf dem weißen Hintergrund. Und jüdische Tradition geht eben davon aus, dass in jeder Generation die Texte neu ausgelegt werden müssen, in die Lücken zu gehen, und dafür steht das weiße Feuer, für die Lücken, für das noch nicht Gedachte, für das Verborgene."

Insgesamt zehn Teilnehmende sitzen im Stuhlkreis. Heute geht es um das Eingangskapitel im Buch Ruth. Elimelech und Naemi sind mit ihren beiden Söhnen während einer Hungersnot aus Bethlehem zu den Moabitern geflohen. Die Söhne heiraten dort die Moabiterinnen Ruth und Orpa. Doch alsbald sterben die Männer der Familie. Die Schwiegertöchter müssen sich entscheiden, ob sie mit ihrer jüdischen Schwiegermutter Naemi nach Bethlehem zurück ziehen wollen oder nicht. Iris Weiss liest den Text vor und bittet die Teilnehmenden, sich in die jeweiligen Rollen hineinzuversetzen. Sie geht zu denjenigen, die etwas sagen wollen und wiederholt die Aussagen, damit es alle gut hören können.

"Naemi hat alles verloren, was sie hatte, ihren Mann, ihre Söhne. Ich will sie jetzt begleiten. Wir sind alles, was sie hat, ihre beiden Schwiegertöchter. Alles hat meine Schwiegermutter verloren, was ihr geblieben ist, das sind wir, die Schwiegertöchter. Wir alle trauern, besser ist es, das gemeinsam zu durchleben als allein zu sein."

Soll man sich auf das fremde Land, auf die fremde Religion der Schwiegermutter, also das Judentum einlassen? Ruth macht diesen Schritt, ihre Schwester Orpa aber nicht.

"Und der Midrasch erzählt, dass es vier Tränen sind, die du weinst. Orpa, was sagen Deine Tränen? Also wenn mich meine Schwiegermutter drei Mal auffordert, dass ich zurückgehen soll, drei Mal diese Aufforderung meiner Schwiegermutter. Kann ich da was dagegensetzen? Ich geh wieder zurück."

Auch wenn Iris Weiss die Interreligosität ihrer Angebote hervorhebt, so will sie doch ganz bewusst als Jüdin den Bibliolog anbieten.

"Ich denk, dass ich als jüdische Bibliologin manches noch mal anders anleite und durchaus auch auf hebräische Wörter eingehe und einbeziehe. Das machen christliche Bibliologen kaum; und dass ich immer wieder Material aus dem Midrasch einbeziehe. Dass im klassischen Midrasch die Rabbinen immer so in die Lücken des Textes reingeguckt haben. So Fragen zum Beispiel über die Kindheit von Abraham, weil wir in der Thora erst von ihm hören, als er schon im fortgeschrittenen Alter ist, dass ausgelegt wird in Diskussionen."

Zum Bibliolog kommen vor allem Frauen, oft auch Pfarrerinnen und Religionslehrerinnen, die diese Art der Textauslegung in ihre tägliche Arbeit mit einfließen lassen können. Aber es kommen auch überdurchschnittlich viele Teilnehmende aus jüdischen Familien, sagt Iris Weiss. An diesem Abend jedenfalls sind alle dem Buch Ruth auf neue Weise näher gekommen.

Teilnehmende: "In der Gemeinschaft die Sachen zu lesen, also ich selber raff' mich nicht auf und lese theologische Literatur. Da raff' ich mich schon mehr auf, setz' mich in die U-Bahn und komm' her."

"Ich kämpfe mit dem Text, wenn ich ihn übersetze, und bin müde, und durch Bibliolog werde ich sehr aufmerksam."

"Ich finde das wesentlich lebendiger, das in einer Gruppe zu erarbeiten, als es alleine zu lesen. Es kommen so viele Facetten zum Tragen und ich erfahre ja den Text. Ich lese ihn nicht nur, sondern ich erlebe den Text."

Obwohl es im Grunde eine ur-jüdische Erfindung und Methode ist, ist der Bibliolog in den jüdischen Gemeinden noch nicht so recht angenommen worden, beklagt Iris Weiss. Sie hofft aber, dass auch die deutschen Rabbiner sich mit der modernen Form des Midrasch alsbald anfreunden können. Denn es belebt nicht nur Geist und Sinne, sondern scheint manchmal geradezu therapeutische Wirkungen zu entfalten, wie schon Bibliolog-Erfinder Peter Pitzele erfahren konnte.

"Da hat er ein Wochenendseminar in der Synagoge gemacht und da war ein junger Mann von 16 Jahren, der lebhaft mitmachte. Und am Ende des Seminars kamen Leute zu ihm und sagten: Wie haben Sie das nur gemacht, dass er mitgemacht hat? Wieso, mir ist nichts aufgefallen! Da sagten die Synagogenmitglieder: Dieser junge Mann ist Autist und hat die ganzen 16 Jahre seines Lebens noch nie außerhalb von zu Hause ein Wort gesprochen."

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