In Aufruhr geratene Körper

Von Volkhard App · 01.02.2011
Das Sprengel Museum widmet sich dem Tanz der Moderne. Gezeigt werden Skulpturen, Grafiken, Fotografien und Filme von Henri de Toulouse-Lautrec über Ernst-Ludwig Kirchner bis zu Oskar Schlemmer.
Tanz und Varieté als schillernde Gegenwelt zum profanen bürgerlichen Alltag. Ein Reich des Amüsements, das kurz vor 1900 auf Plakaten zum künstlerischen Ereignis wurde – so bei Jules Chéret, dessen Darstellungen mehr als bloß eine Ahnung vermitteln von den wilden "Serpentinentänzen" der Loie Fuller in den Folies Bergère. Und die exzentrische Jane Avril zog im Moulin Rouge und in anderen Etablissements nicht nur die Blicke von Toulouse-Lautrec an. Den Körper hat sie auf seinem Plakat zur Seite geneigt, die Arme emporgereckt. Im Kontrast zu ihrem roten, mit Federn geschmückten Hut steht das schwarze Kleid mit Schlangenmuster - ja, es sieht auf diesem Plakat so aus, als umspiele das leibhaftige Tier ihren in Aufruhr geratenen Körper. "Jane la Folle" - die "Verrückte", nannte man sie und "Jane, die Explosive". Auch in der Weimarer Republik wird das Thema Tanzvergnügen in den bildenden Künsten begierig aufgegriffen. Kuratorin Christine Eckett:

"Der Tanz ist ja im Allgemeinen ein Ausdruck der Lebenslust und der Euphorie. Und in der Weimarer Republik war gerade diese Aufbruchsituation wichtig. Deshalb wurde der Tanz damals aufgegriffen, und die Künstler haben sich orientiert am Tanz als einem Mittel, das Leben auszudrücken und auf die Leinwand oder aufs Papier zu bringen."

Spätestens auf den Gemälden und druckgrafischen Blättern aus der Weimarer Republik oder aus den Jahren kurz davor verdichten sich aber die Eindrücke von Tanz und Variéte zu wahren Sittenbildern, das Publikum wird unerbittlich ins Blickfeld gerückt.

So stellt George Grosz, der die Verhältnisse gern zum Tanzen gebracht hätte, 1918 diese Zeitgenossen bloß, die vor der Bühne hocken und auf eine pummelige Dame in Reizwäsche starren. Aber nicht nur Grosz hat seine Kritik zugespitzt.

Mit verzerrten Mienen, einen Sektkübel auf dem Tisch, gaffen sie auf der Druckgrafik von Max Beckmann Richtung Bühne, wo zweifelhafte Gestalten einen Nackttanz aufführen. Aber vielleicht war ja die Kritik nicht der einzige Impuls, ans Werk zu gehen. Ulrich Krempel, Direktor des Sprengel Museums, über die Interessen dieser Künstler:

"Ich glaube nicht, dass es nur um Kritik geht. Erstmal geht es darum, dass man die Dinge zeigt: Da ist der Report, ist das Erotische, das vordergründige Amüsement an den Dingen. Denken Sie an Toulouse-Lautrec, der mit den Tänzerinnen zusammengelebt hat und diese Schwelle zwischen freiem künstlerischen Arbeiten und auf der anderen Seite einer prostituierenden Situation geduldet hat. Also es geht nicht nur um die Kritik. Es ist manchmal eher das Ambivalente, dass dabei übrig bleibt."

"Ohne Ekstase kein Tanz!", dieses Zitat im Titel der Schau stammt von einer überragenden Künstlerin, der Ausdruckstänzerin Mary Wigman, die mit ihren eigenwilligen, kraftvollen Auftritten für Aufsehen sorgte, mit einer von atemlosen Drehbewegungen geprägten Choreografie. Emil Nolde war mit ihr befreundet, und Ernst-Ludwig Kirchner ließ sich von ihr und ihrer Schülerin Gret Palucca zu furios gestrichelten Blättern inspirieren. Filmaufnahmen und Fotos von ihnen gehören zu den Höhepunkten dieser Ausstellung.

Doch mit Ekstase verband Kirchner und verband manch anderer Protagonist der "Brücke" noch etwas ganz anderes: das entfesselte Ritual in fernen, exotischen Gefilden. Schließlich waren die "Brücke"- Mitglieder stets auf der Suche nach dem Ursprünglichen. Ulrich Krempel:

"Seitdem Gauguin in die Südsee gezogen ist und Beispiele gesetzt hat für andere europäische Künstler, ist das Anschauen des Anderen etwas Interessantes gewesen - Tanz wirklich als inspirierte Ausdrucksform für künstlerische Arbeit."

Entrückt, nur mit Bastrock bekleidet, tanzt eine dieser Ureinwohnerinnen auf einem Bild Kirchners. Wirklich der Inbegriff fremder Schönheit – oder aus heutiger Sicht eher eine Art Eingeborenen-Klischee?

Eine Reise durch die ersten drei Jahrzehnte des zurückliegenden Jahrhunderts, ein Dialog zwischen den bildenden Künsten und der darstellenden Kunst. Durch die vielfältige Präsentation zieht sich die schwierige, aber reizvolle Aufgabe, tänzerische Bewegung aufs Blatt und die Leinwand zu bringen oder in skulpturale Form. Christine Eckett:

"Ob es nun durch rhythmische Anordnung von Linienstrukturen, durch Diagonalen geschieht oder durch eine bestimmte Farbigkeit: aus vielen Werken spricht eine Dynamik, die ganz deutlich auf Tanz und Bewegung verweist."

Mit den Bauhaus-Tänzen und Oskar Schlemmers "Triadischem Ballett" wird am Ende der Ausstellung eher schon der Gegenpol zur Ekstase erreicht: die kühl kalkulierte Kunstdarbietung, getanzte Geometrie. Christine Eckett:

"Mit den Konzepten der Bauhaus-Künstler, die sich sehr stark nach Maß und Zahl orientiert haben, wird die Ekstase zurückgeschraubt, das Außersichsein, das Chaos. Das Herausgehen des Tänzers, dass es noch bei Mary Wigman gab, wird zurückgedrängt, und eine künstliche Welt wird erschaffen, die sehr stark nach mathematischen Konzepten ausgerichtet ist."

Insofern leuchtet ein, dass ungegenständliche Blätter und Gemälde diese Schau stilistisch abrunden, Arbeiten Kandinskys und sogar ein Gemälde aus dem Umfeld der "Demoiselles d'Avignon" ist mit dabei: Es sind weitgehend abstrahierte farbige Figuren, die sich da auf der experimentellen Bildbühne Picassos bewegen.

Bei diesen Streifzügen durch die Moderne geraten vielleicht nicht die musealen Räume in Schwingung, aber einiges von der tänzerischen Energie geht doch auf den Betrachter über. Es muss ja nicht gleich Ekstase sein.

Informationen des Sprengel Museums zur Ausstellung "Ohne Ekstase kein Tanz!"