In alten Sagen ist alles drin

23.03.2012
Die "Sage" meint das "Gesagte". Vor allem auf der mündlichen Überlieferung basiert das, was wir als klassischen "Sagenschatz" bezeichnen. Die Hörbuch-Edition "Der große deutsche Sagenschatz" aus dem Hörverlag München bringt nun auf sechs CDs viele dieser Geschichten zusammen.
"Die schöne Lilofee. Es freit ein wilder Wassermann ..."

Es war einmal ...

"... von der Burg wohl über die See ..."

... ein knisterndes Feuer, und einer oder eine begann zu erzählen ...

"Er freit um königlichen Adelsstamm. Um die schöne Lilofee,"

erzählte Geschichten über Riesen, Zwerge, Ritter, Könige, Teufel, Zauberer oder erzählte über den Wassermann, der eine Menschenfrau begehrt.

"Er ließ eine Brücke beschlagen mit Gold. Von der Burg wohl über den See. Dass sie darüber lustwandeln sollt. Die schöne Lilofee. Sie ging darüber wohl manchen Gang. Von der Burg wohl über die See. Bis, dass sie unter Wasser sank. Die schöne Lilofee."

Laura Maire - was für eine Zartheit im Ausdruck bei dieser Schauspielerin -, Laura Maire liest die Sage von Lilofee. Und alles ist hier drin: Leid, Liebe, Tod, und sicher auch Sex, irgendwo da unten in den dunklen Tiefen, wo der Wassermann haust.

"Und als sie unter das Wasser sank. Von der Burg wohl über die See. Der wilde Wassermann sie umschlang, die schöne Lilofee."

Apropos Liebe, Sex, Tod, apropos Helden, Heilige, Narren, Teufel und Geister - in dieser Art sind die sechs CDs der Box thematisch geordnet -, apropos Klabautermann, Dr. Faustus, Frau Holle, der Golem oder Werwolf: Wenn man den großen deutschen Sagenschatz hört und dabei die deutsche Kulturgeschichte sozusagen "hörend durchschreitet", gewinnt man den Eindruck, dass diese mythischen Geschichten verblüffenderweise immer noch sehr präsent sind.

Um es nur an einem Beispiel deutlich zu machen: Die archetypische Grundstruktur vieler dieser Sagen, die so genannte "Heldenreise", bei der der Held durch Höhen und Tiefen zu seiner Bestimmung gelangt, ist ein typisches Muster, mit dem in unserer Popkultur, speziell im Kino, heute erzählt wird. Wo durchaus - unausgesprochen - Bezug genommen werden kann auf eine Figur wie Krabat, den Lehrling des Müllers, der in seiner Mühle die Schwarze Kunst betrieb.

Krabat: "Der Müller gefiel der junge Krabat ausnehmend gut. Der fragte ihn, hättest Du wohl Lust, bei mir zu bleiben? Dr hatte stets zwölf Mühlknappen bei sich, die aber in Wirklichkeit Studierende des bösen Handwerks waren. Es mussten immer zwölf. Wenn das Lehr- und Prüfungsjahr endete, dann ging jedes Mal einer derselben verloren. Ein großes Rad bezeichnete durch Umdrehen der Unglücklichen, der dem Verderben geweiht wurde."

Krabat, der Zauberlehrling, Siegfried, der Drachentöter oder Klaus Störtebeker oder: All diese Alten auf ihrer Heldenreise können wir betrachten als Geschwister von beispielsweise Luke Skywalker aus "Star Wars", der jungen FBI-Agentin in "Das Schweigen der Lämmer" oder Julia Roberts in "Pretty Woman", die als Prostituierte viele Kämpfe gegen viele Drachen, beispielsweise in Person eines geldgierigen Anwalts, bestreiten muss, bis sie am Ende zusammen mit Richard Gere den Heiligen Gral der echten Liebe ergreifen darf.

Mit anderen Worten: In den alten Sagen war schon alles drin. Deren Überzeitlichkeit wird in der Hörbuchbox "Der große deutsche Sagenschatz" sehr anschaulich, zumal, wenn die alten Geschichten so wunderbar vorgelesen werden von Gert Heidenreich, Anna und Katharina Thalbach, Laura Maire oder Ulrich Noethen. Wobei wir auch hier lernen dürfen, dass die Bösen in diesen Sagen keineswegs netter waren als heute im Film:

Rübezahl: "Rübezahl ist ein launischer, wankelmütiger Geist. Vor undenklichen Zeiten schon toste Rübezahl in den wilden Gegenden des Riesengebirges, hetzte Bären und Auerochsen aufeinander, dass sie zusammen kämpften, oder scheuchte mit schrecklichem Getöse das Wild vor sich her und stürzte es von den steilen Felsklippen in die Abgründe."

Der Wermutstropfen der Hörbuchedition liegt allerdings in der Ausstattung. Die Booklet-Informationen sind spärlich ausgefallen. Und über die historische wie kulturgeschichtliche Einordnung der Sagen, beispielsweise ihre Funktionalisierung durch die Nationalsozialisten, erfährt man hier nichts. Die Hörbuchbox bietet also wenig für den Wissensdurst, doch,

Der Erlkönig: "Wer reitet so spät durch Nacht und Wind ..."

Doch für siebeneinhalb Stunden Vorlesekunst ist gesorgt. Beispielsweise bei Goethes "Erlkönig".

Der Erlkönig:"Es ist der Vater mit seinem Kind. Er hat den Knaben wohl in dem Arm, er fasst ihn sicher, er hält ihn warm."

Wenn demnächst also wieder einmal ein Hollywoodfilm die Mär vom Kind aufbereitet, das durch Geister gestohlen wurde, wenn uns also diese Geschichte effektvoll, gar in 3D, neu präsentiert wird, können wir nach Hören des "Sagenschatzes" behaupten: Alles,

Der Erlkönig: "Dem Vater grauset. Er reitet geschwind."

Alles schon Mal da gewesen.

Der Erlkönig: "Erreicht den Hof mit Müh und Not."

Ohne Frage mit weniger Effektspektakel,

Der Erlkönig: "Das Kind ..."

Aber keineswegs weniger dramatisch mitreißend.

Der Erlkönig: "... war tot."


Der große deutsche Sagenschatz, 6 CDs
Gelesen von Ulrich Noethen, Anna Thalbach, Gert Heidenreich,
Der Hörverlag, München, 2012, 29,99 Euro