Improvisation, Körperaktion und Ekstase

Von Rudolf Schmitz · 27.08.2012
Selten hat es eine documenta mit so vielen Klangkünstlern und Soundperformern gegeben. Unter ihnen ist der 1980 in Beirut geborene Tarek Atoui. Der libanesische Künstler jagt Soundschnipsel durch seinen Laptop und moduliert sie mit seinem Körper. Dabei entsteht eine hochenergetische Live-Performance.
Es sieht aus wie Beschwörung, wenn Tarek Atoui seine Sound-Performance macht. Er gestikuliert, er vollführt streichelnde und dann wieder abrupte Gesten, der Laptop wird zum hektisch animierten Plattenteller, das Mischpult zum Spielfeld seiner schlanken und flinken Finger.

Tarek Atoui: "Meine Musikstücke müssen gehört u n d gesehen werden. Nur mit meinem Körper in Aktion kann man sie wirklich verstehen."

Ohne diesen Körperkontakt, ohne gestischen Dialog existiert das alles nicht, was man bei Atouis Auftritten hört. Natürlich gibt es da eine Fülle von Geräuschen, von Rhythmen, von eingestreuten Sprachfetzen, von populären Sounds, die der Laptop auch ohne menschliches Zutun reproduziert und in immer neuen Schichten zusammen mischt. Doch der libanesische Künstler will seinen Laptop irritieren, ihn zu abrupten Wechseln zwingen, zu unvorhergesehenen Reaktionen.
"Ich wollte elektronische Musik live darbieten, und zwar möglichst lebendig"."

Elektronische Musik als Live-Performance, als Mischung aus Improvisation, Körperaktion und DJ-Ekstase – das ist es, womit Tarek Atoui das Kasseler Kunstpublikum überrascht.

Man sieht, wie viel ihm die Inszenierung des Soundspektakels abverlangt. Er braucht dieselbe Kondition wie ein DJ. Oft agiert er mit nacktem Oberkörper, der Schweiß fließt in Strömen, nach einer halben Stunde hat er sich völlig verausgabt.

""Die Performance verlangt viel Aufmerksamkeit und Konzentration, eine halbe Stunde Hyperaktivität und viel Schweiß."

Im Libanon war Tarek Atoui ein Teenager wie alle anderen. Nach dem Ende des Bürgerkriegs im Jahr 1990 normalisierte sich das Leben allmählich. Die ersten Clubs und Diskotheken entstehen. Es soll noch acht Jahre dauern, bis Tarek Atoui den Libanon in Richtung Paris verließ. Dort eröffnet sich ihm eine ganz neue musikalische Welt

"Als Teenager im Libanon habe ich Techno gehört und solche Sachen. Erst in Frankreich hatte ich die Chance, die Musik zu wählen, die ich wollte."

Zunächst arbeitet er als DJ, ehe er beschließt, zeitgenössische Musik und Elektroakustik am Konservatorium in Reims zu studieren. In Paris kommt es dann schnell zu gemeinsamen Projekten mit einem Institut zur Erforschung und Förderung der Neuen Musik.

Aber Tarek Atoui spürte immer die Sehnsucht, auf der Bühne zu stehen und live zu agieren. Und so fing er an, sich dafür ein eigenes Instrumentarium zu bauen: ein Software-Programm, das seine Signale von sensorgesteuerten Modulen bekommt.

Im Jahr 2006 ging Tarek Atoui dann für einige Monate in den Libanon zurück, um dort aufzutreten und Workshops für Jugendliche und angehende Musiker zu organisieren.

"Es war gut, zurückzukehren, denn die Kunstszene dort ist sehr aufgeladen und äußerst lebendig. Viele Dinge sind im Entstehen. Und die Workshops waren mein Beitrag dazu."

Spiegeln sich seine Erfahrungen mit dem libanesischen Bürgerkrieg in seiner Musik? Da gibt es immer wieder sehr aggressive Momente, Töne, die wie Maschinengewehrsalven klingen oder wie berstende Granaten. Doch Tarek Atoui möchte nicht auf seine libanesische Herkunft festgelegt werden.

"Ich habe mehr mit der Geschichte der zeitgenössischen Musik zu tun als mit der Geschichte des Bürgerkriegs."

Für die Kasseler documenta hat Tarek Atoui ein neues und hoch komplexes Elektronikinstrument gebaut. Es besteht aus sechs Mischpulten und ist in einem der vielen Pavillons im Auepark untergebracht. Ein Art Tonarchiv, das sich ständig neu generiert und unablässig vor sich hin spielt. Bei den geplanten Performances wird Tarek Atoui mit dieser Ausrüstung auf öffentlichen Plätzen, in Clubs, in Kinos und Theatern agieren. Er freut sich auf diese Herausforderung durch ein Instrument, das ihn gelegentlich durchaus überfordern könnte.

"Das ist ein spannende Beziehung, weil es zu unvorhersehbaren, riskanten Situationen kommt."

Manchmal mischt sich dann doch die Politik in Tarek Atouis Kompositionen. Zum Beispiel Stimmen und Sprechchöre aus der chinesischen Kulturrevolution oder den jüngsten Demonstrationen der arabischen Welt. Doch für den libanesischen Klangkünstler ist das lediglich Ausgangsmaterial eines Komponisten von heute, Töne und Geräusche, die zu seiner und unserer Welterfahrung gehören.

Und was ist mit dem Publikum, das seine Performances besucht? Kann es mitmischen bei seinen Klangexperimenten?

"Das Publikum soll die Energie des Augenblicks und der Performance spüren."

Gesichter einer Ausstellung
Künstler und Künstlerinnen auf der documenta