Im Zeichen der Orgel

Von Gerald Beyrodt · 16.07.2010
Das liberale Judentum nahm vor 200 Jahren im Harz seinen Ursprung - im Seesener Jacobstempel. Dessen Architektur orientierte sich an der Vorstellung, wie Salomons Tempel in Jerusalem ausgesehen haben könnte. Doch auch hörbar unterschied sich der Seesener Reformtempel von anderen jüdischen Gotteshäusern.
Der Jacobstempel war eine Synagoge, ein Gotteshaus - kein Tempel im eigentlichen Sinn. Denn anders als im antiken jüdischen Tempel gab es in Seesen natürlich keine Priesterklasse mit besonderen Rechten – und auch keine Tieropfer wie im alten Israel. Trotzdem nannten Reformjuden, zuerst in Deutschland und später auf der ganzen Welt, ihre Synagogen Tempel. Damit nahmen sie Abschied von der Hoffnung, je wieder in Israel ein zentrales jüdisches Heiligtum einzuweihen, und entwickelten eine neue Beziehung zu den Ländern, in denen sie lebten.

Als der Jacobstempel in Seesen gebaut wurde, stand das Land Westfalen unter napoleonischer Herrschaft. Eine gute Zeit für Juden, denn erstmals hatten sie die gleichen Rechte wie die anderen Einwohner des Landes. Joachim Frassl, Kunsthistoriker und Lehrer am Jacobson-Gymnasium in Seesen, ist Autor einer Monografie über den Seesener Reformtempel. Über den Gründer der Synagoge, den Rabbiner, Tabakhänder und Bankier Israel Jacobson, sagt er:
"Er geht davon aus, jetzt wo wir im Königreich Westfalen als Juden gleiche bürgerliche Rechte bekommen haben, haben wir hier eine Heimat gefunden. Und von daher, der Tempel ist dort, wo die Juden ihre Heimat finden. Das neue Jerusalem ist immer da, wo die Juden zu Hause sind."
Die Architektur des Jacobstempels orientierte sich an der Vorstellung, wie Salomons Tempel in Jerusalem ausgesehen haben könnte. Doch auch hörbar unterschied sich der Seesener Reformtempel von anderen jüdischen Gotteshäusern:

Orgelvorspiel Es wird nicht untergehen ( zu Rosch Chodesch)
(Komponist: Lewandowski. Aufgenommen 1928)


Im Seesener Reformtempel gab es eine Orgel. Eine geradezu revolutionäre Neuerung, denn nach Auffassung der Orthodoxen sollen in Synagogen keine Musikinstrumente erklingen. Am Samstag etwa einen Orgelmotor zu betreiben, wäre ein Verstoß gegen das Gebot der Schabbatruhe. Zudem sollen die Musikinstrumente aus Trauer über den Verlust des Heiligtums in Jerusalem schweigen.
"Wir haben ja seit der Zerstörung des Tempels erst einmal ein prinzipielles musikalisches Verbot in den Synagogen und darüber setzt sich jetzt Jacobson hinweg."

Vor allem der Komponist Louis Lewandowski prägte im 19. Jahrhundert die jüdische Orgelmusik. Er wirkte in der riesigen Berliner Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße – ein Gebäude, das wegen seiner großen goldenen Kuppel noch heute jedem Berlin-Touristen ins Auge fällt. Lewandowski kombinierte die Orgel mit einem Chor aus Männer- und Frauenstimmen.
Bis heute gilt die Orgel als ein speziell deutsches Instrument, sagt die Organistin und Judaistin Regina Yantian.

"Das kann man so sagen. Juden aus Russland oder Polen sind ja gar nicht vertraut mit der Tradition. Und man muss davon ausgehen, dass überall, wo es eine Orgel gibt, auch ein deutschsprachiger Einfluss bestand."

Doch auch in Deutschland sind die Lewandowski-Klänge rar geworden. Der Seesener Jacobstempel wurde in der sogenannten Reichskristallnacht zerstört. Nach dem Krieg war das liberale Judentum weitgehend aus den deutschen Synagogen verschwunden. Juden, die aus Russland und Polen kamen, beherrschten das Bild der Nachkriegsgemeinden und brachten oft orthodoxe Traditionen mit. Orgeln blieben ungenutzt. Doch in der Berliner Synagoge Pestalozzistraße im Westen Berlins sorgt Regina Yantian für Klänge fast wie vor dem Krieg.

"Lewandowski selbst hat als erster jüdischer Komponist den Gottesdienst komplett auskomponiert, aber leider nicht für Orgel, sondern für die Kantoren, und viele Begleitungen musste ich halt selbst schreiben, und was es dann nicht gibt bei Lewandowski, das wird dann mit anderen Komponisten aufgefüllt, sozusagen."

Regina Yantian drückt nicht nur auf Tasten und Pedale, sondern dirigiert auch. Mit einem Kopfnicken gibt sie Einsätze an den Chor. Die männlichen und weiblichen Profisänger stehen um sie herum auf der Empore. Über einen Videomonitor hält die Organistin Kontakt zum Kantor. Der steht unten im Synagogenraum.

Inzwischen gibt es wieder zahlreiche liberale Synagogen in Deutschland. Die wenigsten haben eine Orgel. Denn die Gemeinden sind klein und die Instrumente teuer. Doch Regina Yantian hofft auf eine Renaissance der Orgel in der Synagoge.

"In Deutschland entstehen ja immer mehr liberale Gemeinden und besteht eine Tendenz, die Orgeltradition langsam einzuführen. Als Beispiel kann ich da Bielefeld nennen. Die haben eine Kirche umgebaut in eine Synagoge, haben die Orgel mitgekauft. Ich denke, dass durch die Liberalisierung des Judentums in Deutschland auch die Orgel vielleicht wieder etablierter wird."