Im Wald des Verbrechens

Von Katja Nicodemus · 25.08.2005
Akira Kurosawas Film "Rashomon" zählt nach wie vor zu den zehn besten Filmen der Welt. Er war der erste japanische Film, der in der westlichen Welt Aufsehen erregte und erhielt 1951 den Goldenen Löwen auf der Biennale in Venedig, im folgenden Jahr den Oscar. Er handelt von einem Verbrechen, das aus vier verschiedenen, sich widersprechenden Perspektiven erzählt wird.
Und von einer Wahrheit, die immer Konstruktion, Erfindung, Fiktion ist. In seinem Film bedient sich Kurosawa einer Stilisierung, die Elemente des klassischen japanischen Theaters mit Ausdrucksmitteln des Stummfilms verbindet. Heute vor 55 Jahren wurde "Rashomon" in Japan uraufgeführt.

Es ist der Regen, der uns in diesem Film immer wieder beruhigen wird. In Akira Kurosawas Film "Rashomon" wirkt dieses Rauschen wie ein Gegenpol zum grausamen Treiben der Menschen. Drei Männer sitzen zu Beginn des Films unter der mächtigen Ruine des Rasho-Tores. Wir befinden uns im Japan des 12. Jahrhunderts. Immer wieder wird der Film zu diesem Tor zurückkehren, immer wieder werden die drei Männer über einen Vorfall, ein Verbrechen sprechen, das in der Umgebung geschah. In dieses Verbrechen hineingezogen werden wir von einer Szene, die bis heute nichts von ihrer irritierenden Kraft verloren hat.

Während ein Bolero erklingt, sehen wir einen Mann in den Wald des Verbrechens gehen. Blätter, Bäume und Büsche ergeben ein Spiel aus Licht und Schatten. Immer wieder richtet Kurosawas Kameramann Kazuo Miyagawa das Objektiv direkt in die Sonne, was zu damaliger Zeit noch ein absolutes Tabu war. So entsteht ein Rhythmus aus Hell und Dunkel, grellem Weiß und den Schattenrissen der Bäume. Vorbei an einem weißen Frauenhut führt der Weg zu einer Leiche, deren verkrampfte und erstarrte Finger wir ebenfalls nur als Schattenriss sehen. Dieser zunächst so harmlos dahin fließende Bolero, dieser Gang in die Tiefe des Waldes ist auch ein Weg ins Herz der Finsternis. In menschliche Abgründe. Ins Zwielicht und in einen Bereich, in dem Gut und Böse nicht mehr streng geschieden sind und die Wahrheit eine Frage des Blickwinkels ist.

Das Verbrechen, von dem sich die Männer unter dem Tor erzählen, geschah in diesem kleinen Wäldchen. In vier verschiedenen Versionen und Kapiteln zeigt Kurosawa, wie der Räuber Tajomaru einen Reisenden und dessen Frau von der Strasse weglockt. Wie er die beiden überfällt und die Frau vergewaltigt. Am Ende liegt der Ehemann erstochen im Gebüsch. In jeder Variation der Geschichte hören wir, wie der berühmte japanische Schauspieler Toshiro Mifune dem Räuber dieses seltsame, aus der Tiefe des Waldes aufsteigende Lachen verleiht.

Der Räuber Tajomaru, die vergewaltigte Frau, der Geist des Ehemanns und ein zufällig vorbeikommender Holzfäller - sie alle werden ihre eigene Version und Wahrheit der Geschehnisse berichten. Am erstaunlichsten jedoch ist die Geschichte der vergewaltigten Frau. Mit jeder weiteren Erzählung, jedem zusätzlichen Kapitel von Kurosawas Film, wird die zunächst so sanfte Figur des Opfers stärkere Konturen gewinnen. Die Frau wird gegen die Männerwelt aufbegehren, für die ihr Körper nur ein Spielball ist. Sie wird ihren Ehemann attackieren, der sie nach der Vergewaltigung verachtet. Am Ende hört sich ihr Lachen fast genauso wahnsinnig an wie das des Räubers.

"Rashomon" wurde am 25 August 1950 in Japan uraufgeführt. Zur Sensation wurde der Film jedoch auf den Filmfestspielen von Venedig im Jahr darauf. Kurosawa gewann den Goldenen Löwen, den Hauptpreis des Festivals, und wurde mit einem Schlag international bekannt. Man feierte ihn für seinen Mut, das japanische Geschlechterverhältnis auf derart brutale Weise bloßzustellen. Und für einen Film, der zeigt, dass die Wahrheit immer Konstruktion, und eine Frage der Selbstwahrnehmung ist. Vor allem aber war "Rashomon" der erste japanische Film, der mit einer ganz eigenen Ästhetik ins westliche Bewusstsein drang.

"Rashomon", der auf deutsch den geschmacklos frivolen Titel "Das Lustwäldchen" bekam, heißt eigentlich "Tor der guten Geister". Für Akira Kurosawa wurde der Film selbst zu einer Art Übergangswerk. Als der 1998 verstorbene Regisseur Anfang der achtziger Jahre sein Buch "So etwas wie eine Autobiographie" veröffentlichte, ließ er diesen Lebensbericht im Jahr 1950 mit den Dreharbeiten zu "Rashomon" enden. Kurosawa schreibt: "Jedenfalls fühlte ich mich nicht fähig, unbekümmert weiterzuschreiben. "Rashomon" war für mich das Tor zum Eintritt in die internationale Filmwelt, und dennoch ist es für mich als Autobiographen unmöglich, durch das Rasho-Tor zu schreiten und die Beschreibung meines Lebens fortzusetzen. Wer erfahren möchte, was nach "Rashomon" aus mir geworden ist, der sieht sich am besten die Figuren in den Filmen an, die ich nach "Rashomon" gedreht habe."

Kurosawas Haltung ist so einfach wie beeindruckend: Wer einen Film dreht, in dem die Menschen vor der Wahrheit flüchten, der kann nach diesem Film auch keine Autobiografie mehr schreiben. Denn was wäre eine Autobiografie anderes als eine jener "Rashomon"-Geschichten, bei denen sich der Erzähler doch nur selbst ins beste Licht rückt? Wohl kaum ein anderer Regisseur hat die moralische Aussage seines Werks so konsequent für sich umgesetzt wie Akira Kurosawa.