Im virtuellen Labyrinth

Von Dirk Asendorpf · 21.12.2011
Den menschlichen Orientierungssinn erforschen 70 Informatiker, Psychologen und Sprachwissenschaftler seit acht Jahren an den Universitäten Bremen und Freiburg – theoretisch und vor allem in vielen praktischen Experimenten.
"Zwei Eingänge hat die Kugel und Sie müssen jetzt nach vorne gehen und auf gar keinen Fall einen Schritt rein machen, sondern warten, bis das Loch fast in der Mitte ist."

Vorsichtig bugsiert mich Joachim Clemens durch die Einstiegsluke der sogenannten Virtusphere. Die raumhohe, leicht durchsichtige Kunststoffkugel ist auf Rollen gelagert, sie kann sich wie eine Art dreidimensionales Hamsterrad in jede beliebige Richtung drehen:
"So, und jetzt können Sie einen Schritt nach vorne machen, genau…"

Die 220.000 Euro teure Virtusphere steht in einem Labor der Bremer Universität, wird sie benutzt, ist das im ganzen Gebäude zu hören:

"Das lässt nicht nur Freude aufkommen bei den benachbarten Arbeitsgruppen. Das ist im Moment noch ein kleines Problem, das man die so laut hört. Wir versuchen, das noch ein bisschen zu dämpfen."

Die Informatikerin Kerstin Schill gehört zum Vorstand des Sonderforschungsbereichs:

"Das kommt aus Amerika - die Firma heißt selber Virtusphere - und wird in Washington hergestellt. Die ist ursprünglich im Spielekontext entwickelt worden und wir haben sie dann entdeckt und gesagt: Das ist eigentlich ideal, um Experimente im Rahmen der Raumkognition, der Raumwahrnehmung durchzuführen."

Nach einer kurzen Eingewöhnungsphase setzt mir Joachim Clemens ein sogenanntes Head Mounted Display auf. Vor den Augen habe ich jetzt zwei Bildschirme, die mir eine Kunstwelt vorspiegeln, wie man sie aus Computerspielen kennt. Die Darstellung ist mit der Bewegung der Virtusphere synchronisiert. Gehe ich in der Kugel einen Schritt nach vorne, komme ich auch in der vorgespiegelten Realität um die gleiche Distanz voran. Drehe ich den Kopf nach unten, sehe ich auf den Fußboden, drehe ich ihn nach oben an die Decke des virtuellen Raums:

Clemens: "Hier gibt’s drei Räume in dieser Umgebung und einen Flur, der diese Räume verbindet."
Asendorpf: "Da hinten sehe ich ne Tür, dann gehen wir doch da mal hin."
Clemens: "Ja!"
Asendorpf: "Ja, geht schon. Und dahinten sehe ich ein Bild, und diese Bilder dienen mir der Orientierung?"
Clemens: "Ja, genau."
Asendorpf: "Gut, Bild gesehen. Ah ja, und hier kann ich durch die Tür rausgehen? Und anfassen kann man aber nix."
Clemens: "Nee!"
Asendorpf: "Auch nicht virtuell."
Clemens: "Nein!"
Asendorpf: "Und wenn ich gegen die Wand lauf, dann knallt’s?"
Clemens: "Das tut nicht weh."

Das Experiment macht Spaß, aber was ist der wissenschaftliche Nutzen? Es geht zum Beispiel um die Beantwortung einer lange umstrittenen Frage: Schaffen sich Menschen zur Orientierung eine Art innere Landkarte ihrer Umgebung? Kerstin Schill hat sich für die Virtusphere einen trickreichen Versuchsaufbau ausgedacht, um herauszufinden, ob das tatsächlich so ist.

Das Head-Mounted-Display versetzt mich dafür in der Kugel in eine Welt, die es in Wirklichkeit gar nicht geben kann. Eine Umgebung wie auf den fantastischen Bildern des niederländischen Grafikers M.C. Escher mit ihren verdrehten Räumen und endlosen Treppen. Hier sind es Gänge, die sich der Logik nach kreuzen müssten, das aber nicht tun. Andere treffen aufeinander, obwohl sie in verschiedene Richtungen führen:

"Wir schauen: Können Menschen in diesen Umgebungen Aufgaben lösen, also zum Beispiel auf der kürzesten Strecke von einem Bild, wo er sich befindet, dann zu einem anderen Objekt zu gehen. Und obwohl die Versuchspersonen eben keine Karte abbilden können von dieser Umgebung, können sie diese Leistung sehr sehr gut durchführen. Und das ist für uns ein Befund, dass ziemlich sicher für diese Aufgabenstellung eben keine kartenartige Repräsentation der räumlichen Umgebung beim Menschen benötigt wird."

Tatsächlich: Auch mir fällt gar nicht auf, dass ich in einem unlogischen Raum unterwegs bin. Aber wenn ich keiner inneren Landkarte folge, wie orientiere ich mich dann? Kerstin Schill nennt es Sensomotorik:

"Ich lauf durch eine Straße, rieche den Wurststand, sehe dann irgendwas, einen Baum, höre die Vögel zwitschern und das alles zusammen, diese sensomotorische Abbildung, ist dann die Abbildung der Umgebung in unserem Gehirn, die ich nutze, um dann Aufgaben in räumlichen Umgebungen zu leisten wie kürzeste Wege finden, von A nach B zu navigieren oder auch zu sagen: Wo bin ich gerade. Etwas, was uns ziemlich einfach vorkommt, aber sehr sehr schwierig ist."

Eine weitere beliebte These ist, dass sich Männer eher anhand einer abstrakten inneren Karte orientieren, Frauen sich dagegen von ihrem Gefühl anhand wiedererkennbarer Objekte in der Umwelt leiten lassen. Doch auch das bestätigte sich in den Virtusphere-Experimenten nicht:

"Die Versuche, die wir durchgeführt haben, da haben wir Männer und Frauen im gleichen Anteil getestet und da gab es keine geschlechtsspezifischen Unterschiede."

Langfristig soll diese Grundlagenforschung am Menschen dazu beitragen, auch Robotern, Rollstühlen oder sogar Autos eine ähnlich gute Raumwahrnehmung zu verschaffen. Ohne exakte Karte ihrer Umgebung sind die technischen Geräte bisher weitgehend orientierungslos. Ich laufe dagegen immer entspannter durch die virtuelle Welt. Fast muss ich mich schon in den Arm kneifen, um nicht zu vergessen, dass ich dabei ja eigentlich auf dem Fleck trete und nur die Kugel unter mir herumrollt:

Asendorpf: "Und haben sich da auch schon welche drin verlaufen?"
Clemens: "Äh, noch nicht, nein. Es hat sich auch noch keiner ernsthaft verletzt und überhaupt noch nicht verletzt, nein."

Ein Kollege von Joachim Clemens hat die Virtusphere sogar schon als Sportgerät genutzt. Mein Ausflug in die wundersame Welt der Raumkognitionsforschung geht jetzt zu Ende. Der Forscher nimmt mir das Head-Mounted-Display ab und lotst mich zur Ausstiegsluke der Kugel:

Clemens: "Jetzt müssen Sie nach vorne gehen, bis das Loch fast in der Mitte ist."
Asendorpf: "Ja, und dann erst raus."
Clemens: "Und dann einmal rumdrehen. Und jetzt mit dem Loch rausgehen."
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