Im Schatten des Eisernen Kanzlers

Rezensiert von Johannes Willms · 30.03.2007
Seit ihrer Gründung war die Weimarer Republik ein instabiles Gebilde, sie wurde von Beginn an von der politischen Rechten wie der extremen Linken infrage gestellt. Robert Gerwarth zeigt in seinem Buch "Der Bismarck-Mythos", wie die National-Konservativen bis hin zu Hitler das Bild des Reichsgründers in ihrem ideologischen Kampf nutzten, um die junge Demokratie zu Fall zu bringen.
Die kurze Geschichte des Scheiterns der "ungeliebten" Republik von Weimar, des aus der Niederlage des Deutschen Reichs im Weltkrieg von 1914 - 18 entstandenen demokratischen Vernunftstaats, ist noch nie mit solcher Präzision, Knappheit und Anschaulichkeit geschildert worden, wie in dem auf einer Oxforder Dissertation basierenden Buch "Der Bismarck-Mythos. Die Deutschen und der eiserne Kanzler" von Robert Gerwarth.

Die vom Verfasser gewählte Perspektive ist bestimmt durch den mächtigen Schlagschatten, den Gestalt und Vorbild des Reichsgründers von 1871 auf eine Gesellschaft warfen, die sich nach einer von den meisten ihrer Angehörigen nicht erwarteten und deshalb von vielen reflexhaft verleugneten Niederlage staatlich neu zu organisieren suchte. In dieser Haltung war das Scheitern der Weimarer Republik bereits angelegt, denn diese wurde von Anfang an durch einen "Kult der Unzufriedenheit" grundsätzlich infrage gestellt, dem die politische Rechte wie die extreme Linke huldigten.

Es war das Ur-Unglück der Deutschen im 20. Jahrhundert, dass die Niederlage und der damit einhergehende Untergang des Bismarck-Reichs, der spätestens seit 1917 wegen der schieren Übermacht der Gegner unvermeidlich war, nicht vollständiger, sprich vernichtender ausfiel und deshalb nicht jenes Reich, das im eklatanten Widerspruch zum Geist der Zeit und der diese prägenden Kräfte errichtet worden war, heillos diskreditiert wurde. Das verschaffte der rasch aufkommenden Legende, die Niederlage und Kapitulation einem "Dolchstoß" zuschrieben, durch den die im Felde angeblich unbesiegten deutschen Armeen hinterrücks zu Boden gestreckt wurden, eine propagandistisch gehärtete Glaubwürdigkeit. Dagegen war umso weniger anzukommen, als die Sieger in einer wahren Orgie blinder Rachsucht schwelgten, deren Dokument der Diktatfrieden von Versailles war, dessen strangulierende Bestimmungen von ihnen unnachsichtig eingefordert wurden. Das verurteilte die Weimarer Republik von Anfang an dazu, dass sie von vielen, die rasch immer mehr wurden, nicht als ein gesellschaftlicher und staatlicher Neubeginn begrüßt und begriffen wurde, sondern lediglich als ein Nachspiel, als eine von vorneherein zum Scheitern verurteilte Inszenierung, deren bezeichnender Einfall es war, den alten, schwarz-weiß-roten Bühnenvorhang durch einen schwarz-rot-goldenen zu ersetzen.

Der Republik und den sie stützenden Parteien, die von der Rechten von Anfang an für die Schmach der Kapitulation und deren weitere Folgen verantwortlich gemacht wurden, gelang es nicht, wie Robert Gerwarth anschaulich macht, ein eigenes System überzeugender republikanischer Werte und Symbole zu entwickeln. Der durch einen absurden Kompromiss beigelegte Flaggenstreit ist dafür ebenso ein Beispiel wie der Umstand, dass es der Weimarer Republik nicht gelang, einen Nationalfeiertag im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Jeder Versuch einer demokratischen und republikanischen Symbolsetzung wurde sofort dadurch erfolgreich konterkariert und politisch diskreditiert, dass parallel und in Konkurrenz dazu den Götzen des untergegangenen preußisch-deutschen Reichs gehuldigt wurde. Dieses politische Ritual permanenter Infragestellung, das sich zum "Kult der Unzufriedenheit" auswuchs, hatte in Otto von Bismarck seine über jede kritische Einrede erhabene Referenzgröße.

Die kultische Verehrung Bismarcks, die unmittelbar nach seinem Abgang von der Macht 1890 einsetzte und die ihn schon zu Lebzeiten zu einem Mythos machte, der nach seinem Tod 1898 endgültig dämonische Züge annahm, erlebte angesichts der Niederlage des Deutschen Reichs einen grundsätzlichen Wandel, wie Robert Gerwarth schreibt:

"Bis 1918 hatte er, (Bismarck), die Deutschen davon überzeugen sollen, dass das Kaiserreich die Erfüllung ihrer nationalen Geschichte war. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Mythos dagegen zu einer politischen Chiffre für das, was das Deutsche Reich durch einen von inneren Reichsfeinden begangenen Verrat verloren hatte, nämlich seine Rolle als führende wirtschaftliche und politische Macht auf dem europäischen Kontinent. Gleichzeitig diente er dazu, den Gedanken wach zu halten, dass die einstige Größe Deutschlands nicht dem Parlamentarismus, sondern dem Vorhandensein eines überragenden Führers zu verdanken gewesen sei."

Von den Gegnern der ersten deutschen Republik auf der Rechten wurde der Bismarck-Mythos als eine ideologische Keule genutzt, um die historische Legitimität wie die schiere Existenz der parlamentarischen Demokratie radikal infrage zu stellen. Erstaunlicherweise hat dieser Prozess, an dem die Repräsentanten des national gesinnten deutschen Bürgertums, Politiker, Historiker, Theologen, Schriftsteller, Journalisten und Lehrer ausnahmslos beteiligt waren und der einen Grundakkord der heftigen politisch-weltanschaulichen Kontroversen darstellt, an deren Folgen die Weimarer Republik zu Grunde ging, bislang noch nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit gefunden. Diese Lücke wird jetzt von der Studie Robert Gerwarths glänzend geschlossen, die überzeugend aufweist, dass die Weimarer Republik auch deshalb zu Grunde ging, weil es ihren Verteidigern nicht gelang, aus ihrer leidenschaftlichen Kritik des Bismarck-Mythos einen allgemein akzeptierten republikanischen Gegenmythos zu entwickeln, der den Götzen seiner sich auf die Gegenwart auswirkenden dämonischen Wirkung beraubte.

Das scheiterte nicht zuletzt daran, dass die nationalistisch moussierende Bismarck-Geschichtsschreibung der Weimarer Republik sich ihren Helden für diese Rolle im Weltanschauungskampf zwischen Zweiter Republik und "Drittem Reich" passgenau zuschnitt, worauf Gerwarth mit dem für den hehren wissenschaftlichen Anspruch der Zunft vernichtenden Hinweis aufmerksam macht, dass von den sechs, den "Politischen Schriften" gewidmeten Bänden, die in der Ausgabe von Bismarcks "Gesammelten Werken", die zwischen 1924 und 1932 in 19 Bänden erschienen, lediglich ein einziger Band Dokumente aus den 28 Jahren seiner Reichskanzlerschaft versammelt. Mit anderen Worten: Der als Waffe gegen die Republik geschärfte Bismarck-Mythos wurde ganz bewusst nur auf dessen nicht bestreitbare Leistung bei der Reichseinigung fokussiert, während seine Innenpolitik, die ganz wesentlich darauf angelegt war, die "innere Reichseinigung" vor allem mittels des Kulturkampfs und der Sozialistengesetzgebung zu vereiteln, weitgehend ausgeblendet wurde.

"In einer als ‚führerlos’ empfundenen Zeit betonte die Weimarer Geschichtsschreibung Bismarck als politische Ausnahmeerscheinung und Vorbild, dessen außenpolitische Leistungen die Erinnerungen an das repressive und letztlich erfolglose Vorgehen gegen die sozialistische Bewegung und den politischen Katholizismus verblassen ließen. Selbst die vernunftrepublikanische Minderheit der Historiker stellte dieses verklärte Bismarckbild nicht in Frage."

Angesichts dessen kann nicht überraschen, dass der Bismarck-Mythos immer häufiger und eindeutiger für den politischen Konkurrenzkampf instrumentalisiert wurde, Bismarck spätestens mit der Reichstagswahl von 1924 als "Wahlkämpfer", wie Gerwarth schreibt, von den Parteien der Rechten eingesetzt wurde. Und das mit erheblichem Erfolg, denn bei der Reichspräsidentenwahl 1925 siegte, wenn auch mit knapper Mehrheit, der 78-jährige Reichsfeldmarschall Hindenburg, den die Wahlpropaganda als einen Führer vom Format eines Bismarck hinstellte. Diese Strategie stützte sich, wie Hindenburgs Wahlkampfleiter Schultze-Pfaelzer später eingestand, auf die Spekulation, dass der "deutsche Nationalcharakter" das "patriarchalische Vorbild" liebe und sich eher zu einer Persönlichkeit hingezogen fühle, der man "Rettungskräfte mystischer Art zuschreibt".

Entsprechende Erwartungen enttäuschte Hindenburg zwar, aber er war es andererseits auch, der jenem Mann die Macht in die Hand gab, der diese Sehnsüchte zu befriedigen versprach.

"Unter den vielfältigen Ursachen für den Aufstieg der NS-Bewegung zur stärksten Partei in Deutschland spielte das Verlangen der Menschen nach einem erlösergleichen Führer, das in den zwanziger Jahren stetig zunahm, zweifellos eine besondere Rolle. [...] Hitler hatte das Geschick, das politische Potential des Bismarck-Mythos zu nutzen [...]. Indem er sich als ‚neuer Bismarck’ ausgab und seine Politik als Fortsetzung und Vollendung Bismarckscher Politik darstellte, verringerte er die Kluft zwischen großen Teilen des konservativen Bürgertums und seiner eigenen politischen Bewegung. [...] Dementsprechend begrüßte die Mehrheit der Deutschen Hitler als den Mann, der Bismarcks Werk fortführen und vollenden werde."

Diese Vermutung verstand Hitler mit dem geschickten Propagandacoup des "Tags von Potsdam" am 21. März 1933 symbolisch zu bekräftigen, mit dem in der Potsdamer Garnisonskirche und am Grab Friedrichs des Großen der neue Reichstag festlich eröffnet und die angeblich tiefe Verbundenheit des Nationalsozialismus mit der preußisch-deutschen Geschichtstradition demonstrativ bezeugt werden sollte. Die Botschaft dieser Inszenierung war, dass die verloren geglaubte Größe Preußens und Deutschlands unter den neuen Machthabern wieder im alten Glanz erstrahlen werde. Entsprechend angelegt war auch Hitlers Rede, der zum ersten und letzten Mal aus solchem Anlass mit Frack und Zylinder erschien und dem "Geist von Potsdam" huldigte, dem die Gründer der Weimarer Republik ohne alle Notwendigkeit den Geist von Weimar entgegengesetzt hätten.

Hitler hatte sich nicht, wie häufig behauptet wird, die Macht erschlichen – die war ihm von Hindenburg vielmehr in Übereinstimmung mit den verfassungsrechtlichen Regularien überantwortet worden –, sondern er hatte sich den grassierenden Bismarck-Mythos gekapert und als Tarnkappe übergestreift. Damit war er lange zumal bei den Repräsentanten der alten gesellschaftlichen Eliten erfolgreich, die seinen falschen Zauber erst spät, zu spät durchschauten.

"Die meisten Beteiligten an der Verschwörung vom 20. Juli 1944 haben 1933 die Errichtung eines totalitären Regimes durch Hitler begrüßt, unter anderem weil sie der Illusion einer wie auch immer gearteten Auferstehung des alten Bismarckschen Reichs anhingen. Sie haben Hitlers Politik und seinen Krieg unterstützt, solange sie vom Erfolg des Führers überzeugt waren. Die Männer des 20. Juli wandten sich nicht gegen Hitler, weil sie die parlamentarische Demokratie in Deutschland wiederherstellen wollten. Vielmehr strebten sie einen Staat an, der auf konservativen politischen Werten beruhte, Werten, die sie unter anderem in der Bismarckschen Verfassung von 1871 verankert sahen."

Erst die totale militärische und moralische Niederlage Deutschlands 1945 verzehrte endgültig den virulenten Bismarck-Mythos. Den Beweis dafür liefert die so überaus erfolgreiche zweite Deutsche Republik, die nach Verfassung, politischer Orientierung und Kultur in jeder Hinsicht ein Gegenmodell ist zum Bismarck-Reich von 1871. Ein weiterer Beweis dafür ist aber auch, dass der einst so heftig grassierende und politisch zerstörerische Bismarck-Mythos seither so gründlich verdrängt und vergessen worden ist, dass ihm erst jetzt eine glänzende monographische Studie gewidmet wurde.

Robert Gerwarth: Der Bismarck-Mythos
Die Deutschen und der Eiserne Kanzler

Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt
Siedler Verlag, München 2007