Im Schatten der Geschichte

03.06.2009
In seinem Buch "Nach Atatürk" nimmt der britische Historiker Perry Anderson die türkische Geschichte unter die Lupe. Dabei schlägt er eine Brücke zur Gegenwart - und nennt mehrere Gründe, warum der Türkei der Beitritt in die Europäische Union bislang verwehrt blieb.
Drei umfassende Essays erschienen im Laufe des Jahres 2008 in der Zeitschrift "London Review of Books". Sie alle befassten sich unter historischen, politischen, ökonomischen und kulturellen Gesichtspunkten mit der Entwicklung der Türkei im Laufe der letzten hundert Jahre. Autor ist der 1938 geborene Universalhistoriker und politische Essayist Perry Anderson, ein britischer Marxist, der als Professor an der angesehenen "University of California" Geschichte lehrt. Der kleine Berliner Berenberg Verlag hat diese anspruchsvollen und erhellenden Essays Andersons ("Der Kemalismus", "Nach Kemal" und "Die Teilung Zyperns") nun in einem Buch unter dem Titel "Nach Atatürk. Die Türken, ihr Staat und Europa" herausgebracht.

Der Autor verfolgt darin prägnant und kenntnisreich Entwicklungslinien türkischer Geschichte. Sie beginnt für ihn mit dem Zerfall des Osmanischen Reiches, den er auf das Ende des 19. Jahrhunderts datiert. 1908, mit dem Aufstand der Jungtürken, folgt der entscheidende Impuls, und im Oktober 1923 ist mit der Wahl Kemal Atatürks zum Präsidenten der türkischen Republik die Entwicklung abgeschlossen. Anderson zeichnet Atatürk als Modernisierer, dem etwas historisch höchst Seltenes gelang: die Durchführung einer kulturellen Revolution ohne soziale Veränderungen.

Solche Besonderheiten aus der Gründungszeit der Türkei wirken, nach Anderson, bis heute fort. In der "Unaufrichtigkeit" der kemalistischen Herrschaftsordnung sieht der Historiker den Kern der Probleme, die die Türkei bislang nicht gelöst hat. Zum einen die Verbindung von Nation und Religion, zum anderen eine "instrumentelle Haltung zur Demokratie". Auch die derzeitige türkische Regierung spiegele das wider. Die wirklichen Schwierigkeiten, Mitlied der EU zu werden, folgert Anderson, liegen nicht an der Haltung der Brüsseler Behörden, sondern in der Türkei selbst. "Sie haben ihren gemeinsamen Ursprung in jenem Integritätsnationalismus, der ohne Bruch, ohne Reue aus den letzten Jahren eines auf Eroberung gegründeten Imperiums hervorging."

Drei Hindernisse für einen EU-Beitritt führt Anderson beispielhaft aus. Die türkische Besetzung Zyperns, die innenpolitische Situation türkischer Minderheiten, vor allem der Kurden und Alewiten, sowie die Leugnung des Genozids an den Armeniern. Argwöhnisch betrachtet Anderson die Bereitschaft innerhalb der EU, aus wirtschaftlichen und strategischen Überlegungen diese Hindernisse zu übersehen. Er entwirft schließlich das polemische Bild einer postmodernen Harmonie: EU-Kommissare reisen als Pensionäre bequem im TGV von Paris über Berlin, am Mahnmal für die ermordeten Juden vorbei, nach Istanbul, wo man fröhlich Fußball spielt neben Marmor-Monumenten zu Ehren derjenigen, die Massaker an den Armeniern zu verantworten haben.

Perry Anderson setzt sich in seinem Buch kritisch mit den autoritären Strukturen der Türkei auseinander und sieht darin das entscheidende Hindernis für eine Aufnahme der Türkei in die EU. Wobei er diese an sich befürwortet - allerdings unter der Voraussetzung, dass sich die EU ernsthaft mit den Hindernissen auseinandersetzt und das Ziel der Aufnahme die Demokratisierung der Türkei ist. Da allerdings ist Anderson skeptisch. Er befürchtet, dass die strategischen und wirtschaftlichen Interessen bei der Aufnahme im Vordergrund stehen. "Nach Atatürk" ist eine kritische Auseinandersetzung mit hundert Jahren türkischer Geschichte. Ein gescheiter und faktenreicher Beitrag zur Diskussion um die türkische EU-Mitgliedschaft.

Besprochen von Carsten Hueck

Perry Anderson: Nach Atatürk. Die Türken, ihr Staat und Europa
Berenberg Verlag, Berlin 2009
183 Seiten, 19,90 Euro