Im Ohrensessel um die Welt

03.09.2013
Karl May war nie im Wilden Westen, und Marco Polo hat China womöglich nie gesehen. Beide wurden mit Reiseberichten berühmt, die großteils ihrer Fantasie entsprangen. Diese Masche ist bei Autoren offenbar weit verbreitet, wie Pierre Bayard in diesem Band genüsslich zeigt.
Im vergangenen Jahr kam es bei der Verleihung des Henri-Nannen-Preises zu einem kleinen Skandal. Die Jury entschloss sich, den soeben für die beste Reportage vergebenen Hauptpreis wieder abzuerkennen. Prämiert wurde ein im "Spiegel" erschienenes Porträt des Politikers Horst Seehofer. In diesem Porträt schildert der Reporter eine Szene, die Seehofer in seinem Hobbykeller beim Spielen mit seiner Spielzeugeisenbahn zeigt. Der Reporter hatte aber, wie sich dann herausstellte, von der Eisenbahn und dem Keller nur gehört. Er war, obwohl er das Gegenteil suggerierte, niemals dort gewesen. So wenig wie Karl May je im Wilden Westen, obwohl er weltberühmte Abenteuerromane darüber schrieb.

Margaret Mead wiederum, die berühmteste Anthropologin des 20. Jahrhunderts, musste sich in den 70er Jahren fragen lassen, wie intensiv sie mit der Insel Samoa in Wahrheit eigentlich vertraut sei, nachdem sie in einer Studie die märchenhafte sexuelle Libertinage der Samoa-Bewohner beschwärmt und einen regelrechten Samoa-Kult ausgelöst hatte.

Sie alle tun, was wir gelegentlich, im Nebensatz oder episodisch ausgeschmückt, auch tun: Über Orte sprechen, die man mit eigenen Augen nicht gesehen, mit Füßen nicht betreten hat. Venedig, New York, Island, aber auch Berlin mit seiner eindrücklichen Mauervergangenheit, dies sind bevorzugte Orte erschwindelter, nie stattgefundener Reisen.

Mit einem äußerst humorvollen Essay über das Gesellschaftsspiel der kleinen Bildungslüge, der kleinen Angeberei landete der französische Professor, Psychoanalytiker und Schriftsteller Pierre Bayard, der in Paris lebt und lehrt, vor fünf Jahren einen Beststeller. Das Buch hatte den Titel: "Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat". Bayards neues, nicht minder amüsantes und unterhaltsames Buch schließt nahtlos daran an: "Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist".

Allerdings ist der, wie Bayard ihn nennt, "sesshafte Reisende", der die Welt vom Ohrensessel aus erkundet und bescheidwisserisch über sie plaudert, eine in der Kultur- und Literaturgeschichte fest etablierte Erscheinung. Das nimmt den literarischen Belegen, aus denen Pierre Bayards Buch zum großen Teil besteht, ein wenig von der Würze und der Keckheit, die sein Buch über den Typus des nicht lesenden Leser auszeichnete.

Denn imaginäre Reisen, imaginäre Orte, imaginäre Präsenz an diesen Orten gehören zum kleinen Einmaleins der Literatur. Die philologische Wissenschaft ist sich mittlerweile uneinig, ob Marco Polo auch nur einen einzigen Tag in China verbrachte, obwohl er darüber schrieb, als kenne er das Reich der Mitte und seine Geheimnisse wie seine eigene Westentasche. Nur zählt auch eine derart dicke Übertreibung zum gängigen Handwerk der Fiktion. Unzweifelhaft ist Pierre Bayard dennoch ein erfrischend origineller Literaturinterpret und auch sein neuestes Werk ein großes Lesevergnügen. Wertvoll gerade jetzt, am Ende der Sommer- und Ferienzeit. Denn es ermutigt all jene, die auf Balkonien waren, beim nächsten Partygespräch eine Fernreise daraus machen.

Besprochen von Ursula März

Pierre Bayard: Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist
Aus dem Französischen von Lis Künzli
Kunstmann Verlag, München 2013
214 Seiten, 18,95 Euro