"Im nächsten Leben"

27.05.2009
Der Reporter Wolfgang Kerber gilt als Auslaufmodell. Zu DDR-Zeiten war er ein privilegierter Fotograf der dortigen Nachrichtenagentur ADN, wechselte nach der Wende zu einer großen Boulevard-Zeitung. Doch 20 Jahre später kommt er mit der neuen Technik und der neuen Zeit nicht mehr zurecht.
Deutschland 2008, Regie: Marco Mittelstaedt, Darsteller: Edgar Selge, Anja Schneider, Ralf Dittrich, Marie Luise Stahl, ab 6 Jahren

Der 1972 in Berlin geborene ausgebildete Fotograf Marco Mittelstaedt studierte von 1997 bis 2004 an der Deutschen Film- und Fernsehakademie DFFB, realisierte mehrere Kurzfilme und schuf mit "Jena Paradies" 2004 seinen ersten eigenen Langfilm. 2006 kam "Elbe" von ihm in die Kinos. "Im nächsten Leben" entstand, wie schon sein Debütfilm, in Kooperation mit dem ZDF und der dortigen Redaktion "Das kleine Fernsehspiel". Außerdem produzierte hier auch ARTE mit.

Nicht erschrecken, Kunst trifft hier auf Ereignis. Und das hat einen Namen: Edgar Selge. Der am 27. März 1948 in Brilon geborene Schauspieler, der Philosophie und Germanistik studiert, die renommierte Münchner Schauspielschule "Otto Falckenberg" besucht und 1975 diplomiert abgeschlossen hat, zählt zu unseren gegenwärtig besten deutschen Mimen. Nur: Dies hat er meistens im Fernsehen oder auf Theaterbühnen nachhaltig unter Beweis gestellt und weniger auf der Leinwand.

Einem breiten Publikum ist der Adolf-Grimme-Preisträger als einarmiger Hauptkommissar Tauber in der ARD-Krimireihe "Polizeiruf 110" bekannt. Hier nun spielt er einen schleichenden Spät-Wende-Verlierer. Als Reporter Wolfgang Kerber kommt er weder mit der neuen Technik noch mit den modernen Zeiten mit.

Zu DDR-Zeiten war Kerber ein privilegierter Fotograf der dortigen Nachrichtenagentur ADN. Im Tross von Honecker & Co durfte er mit um die Welt reisen. Ohne allerdings damals mitzukriegen, wie sehr seine Familie, Ehefrau und Tochter, unter den gleichzeitigen staatlichen Repressalien litt. Gleich nach dem Mauerfall wird er Polizeireporter bei einem namhaften Boulevardblatt.

20 Jahre später aber, mit 56 Jahren, gilt er als Auslaufmodell, das nicht mehr effektiv und profitabel genug arbeitet. Sein viel jüngerer Chef ist unzufrieden, Kerber steht unter Druck, im modernen Turbokapitalismus fällt ihm "das Atmen" immer schwerer. Ohne dass er sich dies eingestehen will. Eine starke Story muss endlich mal her. Und die winkt auch. Meint er. Ein junges Mädchen ist in Wolfen verschwunden. Doch Kerber recherchiert einseitig, deutet die Fakten falsch und sieht nur, was er sehen will. Statt auf eine journalistische Sensation trifft er auf seine Tochter Margitta, die hier lebt. Und die ihn dazu bringt, sich erstmals der gemeinsamen Vergangenheit zu stellen.

Eine nicht gerade besonders originelle Geschichte, bei der auf große Gesten, imposante Posen verzichtet wird. Und die schon gar nicht etwa mit "Die ganze DDR in 90 Minuten" hausieren geht. Im Gegenteil: Täter, Opfer, Schuldige, an die Wand mit ihnen, möglichst mit Ausrufungszeichen - nichts da. Die Handlung tritt klar gegenüber den Beteiligten in den Hintergrund, die Figuren leben und beleben dieses Menschen-Drama.

Edgar Selge ist dabei das As. Als Kerber ist er ungemein präsent, charismatisch, aufregend in kleinsten Bewegungen, mit jeder Pore seines Körpers spannend, zeigend, erzählend. Ein wunderbarer Schauspieler, dem man viel öfters auf der Leinwand begegnen möchte. So dicht, packend, sensibel, körnig-faszinierend wirkt er; das ist schlicht wie ergreifend große, unaufdringliche Schauspiel(er)-Klasse.

Nicht minder dicht, packend, still-berührend wirkt Anja Schneider an seiner Seite als Tochter Margitta. Und dazu: Diese präzisen, unaufgeregten, wunderbar einfachen wie schönen Alltagsmotive von Kameramann Michael Kotschi.

"Im nächsten Leben" ist ein kleines filmisches Juwel. Das auf tatsächlichen Fakten basiert: Regisseur Mittelstaedt hat die Biographie seines eigenen Vaters inspiriert, der einst ADN-Cheffotograf war, um dann gleich ab Herbst 1989 als Polizeireporter für Deutschlands größte Boulevardzeitung umzusatteln. "Ich schämte mich bodenlos", erklärt der Regisseur, der damals 17 war, im Presseheft. Heute sehe er dies allerdings weitaus "differenzierter".

Ein bemerkenswerter kleiner-großer Film ist hier in Wittenberg, Bitterfeld-Wolfen in Sachsen-Anhalt und in Berlin entstanden. Der schließlich sogar, soviel darf verraten werden, doch mit einer Sensationsgeschichte endet - aber die kommt aus einer ganz anderen Ecke. Ein im allerbesten Sinne kleiner-großer deutscher Film.

Filmhomepage Im nächsten Leben