Im Land der verrückten Tyrannen

07.02.2013
Toby Wilkinson rechnet in diesem Werk posthum mit den großen Pharaonen ab und deutet die Errungenschaften der alten Ägypter als reine Machtdemonstrationen. Und doch schafft es der Ägyptologe aus Cambridge, über 800 Seiten hinweg die alte Kultur am Nil hochspannend zum Leben zu erwecken.
Eine spannende Geschichte einer "geheimnisvollen Zivilisation" vom 5. Jahrtausend vor Christus bis hin zur Königin Kleopatra verspricht der britische Historiker Toby Wilkinson in seinem Buch. Und tatsächlich schafft es der Autor auf über 800 Seiten, den Ablauf von 30 Dynastien, deren wissenschaftliche Entdeckungen, die architektonischen und bildnerischen Glanzleistungen, die politischen Projekte und Reformen anschaulich, zum Teil sogar spannend zu erzählen.

Wilkinson beginnt mit einer Schlüsselszene der Ägyptenwissenschaften: mit der Öffnung des Grabes von Tutanch-Amun durch den Briten Howard Carter und seine Equipe im Jahr 1922. Wilkinson fasst die berühmte Szene archetypisch auf: Mutige, meist europäische "Fans" des Alten Ägypten entdecken bedeutende Schätze des Altertums und machen sie der zunehmend faszinierten Öffentlichkeit bekannt.

Die Freude über den Reichtum der Grabbeigaben und das Staunen über die architektonischen Leistungen verhindern jedoch nach Meinung des Autors eine kritische Auseinandersetzung mit dem "Charakter" Ägyptens. Diesem spürt Wilkinson in den fünf Hauptteilen des Buches nach. Vom ersten König Narmer, der den Thron um circa 2950 vor Christus bestieg, über Amenophis und Ramses bis zur Eroberung Ägyptens durch Alexander den Großen geht die Zeitreise.

Wilkinson, Ägyptologe in Cambridge und einer der führenden, jüngeren Vertreter der Zunft, bringt dabei das Kunststück fertig, trotz der chronologischen Erzählweise nicht monoton zu werden. Das liegt zum einen an seinem stupenden Detailwissen – zum Beispiel zählt er beiläufig die "Krankengeschichten" auf, von denen wir durch entsprechende Reliefs Kenntnis haben und schließt daher auf den Zustand der Gesundheitsvorsorge – zum anderen an abwechslungsreichen Exkursen: So ist ein ganzes Kapitel dem Nil gewidmet, dessen jährliche Hochwasser mit ihrem als Dünger wirkenden Schlamm erst die Voraussetzung für die wirtschaftliche Blüte des Landes schufen. Die Abhängigkeit vom Nil prägte die ägyptische Kultur jedoch noch tiefer: Weil der Nil unheilvoll und beängstigend, andererseits Leben spendend und segensreich gewirkt habe, so Wilkinson, sei "die altägyptische Denkungsart (...) gekennzeichnet vom Glauben an die Existenz von Gegensätzen".

Dies ist allerdings eine der wenigen Stellen, in denen der Autor metaphysisches Denken, ja Spiritualität zugesteht. Das ist frappierend, wenn es um den umstrittenen König Echnaton geht, der um 1350 vor Christus den Monotheismus in Ägypten durchzusetzen versuchte – bei Wilkinson ist er nur ein monomanischer, verrückter Tyrann. So versessen ist Wilkinson darauf, die mythischen Pharaonen zu entzaubern, dass er alle Errungenschaften der Ägypter als reine Demonstrationen von Macht interpretiert.

Mit der Vereinigung von Ober- und Unterägypten zu einem Nationalstaat entsteht, so Wilkinson, "eine Despotie in Reinform". Die Hieroglyphen? Eine Marotte von Buchhaltern und Ideologen. Das Beamtentum? Eine "Gesellschaft von Buchhaltern und Ideologen". Die Pharaonen? "Grausam" und "brutal", ihre Reformen "nur eigennützig". Die Beziehung der Alten Ägypter zu ihren Herrschern - "zwanghaft", weil sie sich nicht auflehnten.

Wilkinson veröffentlicht seit zwanzig Jahren über Ägypten, und er schreibt mehrfach von seiner Enttäuschung über seinen Forschungsgegenstand. Diese Enttäuschung führt ihm die Feder- und macht die Linienführung leider sehr grob. So lässt er sich dazu hinreißen, den Bau der Pyramiden von Gizeh mit den protzigen Prunkbauten im Rumänien Ceaucescus zu vergleichen! "Aufstieg und Fall des Alten Ägypten" erweist sich letztlich, anders als der Untertitel suggeriert, also keineswegs als "Geschichte einer geheimnisvollen Zivilisation", es ist vielmehr die Abrechnung eines enttäuschten Liebhabers. Von ihm kann man viel Wissenswertes erfahren – eine balancierte Darstellung einer der ersten Hochkulturen der Menschheit ist es nicht.

Besprochen von Gabriela Jaskulla

Toby Wilkinson: Aufstieg und Fall des Alten Ägypten
Aus dem Englischen von Enrico Heinemann und Karin Schuler
DVA, München, 2012
832 Seiten, 29,99 Euro