"Im Krieg wird man sich selbst zum Monstrum"

29.05.2012
Das Buch "Frau an der Front" ist ein schonungsloser Bericht aus dem Zweiten Weltkrieg - und zugleich voll menschlicher Wärme. Alaine Polcz erzählt, wie sie trotz Hunger, Krankheit und Vergewaltigungen überlebt und dennoch den Glauben an die Menschen nicht verloren hat.
Läuse hätten sie gehabt, sagt die eben aus den Kriegswirren wieder aufgetauchte junge Frau zwischen zwei gierigen Bissen, und alle Frauen seien von den sowjetischen Soldaten vergewaltigt worden. Die Mutter bittet ihre Tochter, keine grässlichen Witze zu machen. Es sei die Wahrheit, beharrt Alaine Polcz, lenkt aber ein, als die Mutter sie entsetzt anfleht.

Das aus Barmherzigkeit Verschwiegene wird bald, im sozialistischen Ungarn, unsagbar. Erst nach 1989 schreibt Alaine Polcz (1925-2007), eine in Ungarn durch ihr Engagement für Sterbende bekannte Psychoanalytikerin, die in zweiter Ehe mit dem Schriftsteller Miklós Mészöly verheiratet war, ihre Erinnerungen auf. "Frau an der Front" erregte 1991 großes Aufsehen in Ungarn.

1944, mit 19 Jahren, heiratet Alaine Polcz. Ihr Mann liebt sie nicht, er infiziert sie mit Gonorrhö; auf der Hochzeitsreise hat er eine Prostituierte aufgesucht. Im siebenbürgischen Klausenburg (ungarisch Kolozsvár, heute Cluj), seit 1940 vom Horthy-Regime besetzt, organisiert das Paar Verstecke und Papiere für jüdische Nachbarn. Als Rumänien Ende 1944 Siebenbürgen zurückerobert, fliehen die Angehörigen der ungarischen Minderheit durch ein noch friedliches Ungarn auf ein Schloss der Esterházys, wo Polcz' liebevolle Schwiegermutter Haushälterin ist.

Alaine arbeitet als Krankenschwester, bis sie und ihr Mann mit anderen, darunter Franzosen, Juden und Antisemiten, in einem Waldhaus Zuflucht suchen. Nach dramatischen Zwischenfällen mit Partisanen, ungarischen und deutschen Soldaten zwingen Rotarmisten die Flüchtlinge auf einen langen Marsch und lassen sie auf ihre Bitte hin mitten in der Frontlinie frei.

70 schwer erträgliche Seiten lang berichtet Alaine Polcz aus der gesetzlosen Zone. Ihr Ehemann wird verhaftet, Alaine kriecht in einer Hütte, dann in einem Keller unter. Hunger herrscht, Ungeziefer und Krankheiten nehmen überhand. Das Verhalten der Rotarmisten scheint vollkommen willkürlich. Sie schenken und rauben, umsorgen und erschießen. Wie jede Frau wird Polcz mehrmals vergewaltigt. Sie legt sich auch hin, wie sie lakonisch schreibt: für ein Glas Milch, für eine Matratze, die die kranke Schwiegermutter dringend benötigt. Kurz darauf der Schrecken vor dem Grauen: "Im Krieg wird man sich selbst zum Monstrum." Zurück in Klausenburg, wo der verschollen geglaubte Vater als Don Juan wirkte, als gebe es keinen Krieg, schwebt sie monatelang zwischen Leben und Tod.

"Frau an der Front" ähnelt dem Bericht der Anonyma "Eine Frau in Berlin", ist allerdings schonungsloser, weniger literarisiert, zugleich voller menschlicher Wärme. Alaine Polcz ist keine abgeklärte Großstädterin, sondern eine junge Provinzlerin, die Lebensmut aus Freundschaften schöpft. Ihre Trauer über den Verlust der Heimat Siebenbürgen bediente 1991 möglicherweise auch die Sehnsucht vieler Landsleute nach Großungarn. Vor allem aber ist ihrer atemberaubenden Erzählung vom Überleben des Krieges und lebensgefährlicher Krankheiten die Befreiung vom Ehemann eingeschrieben. Am Ende hat Alaine Polcz den Glauben an Gott verloren, nicht aber den an die Menschen.

Besprochen von Jörg Plath

Alaine Polcz: Frau an der Front
Aus dem Ungarischen von Lacy Kornitzer
Suhrkamp, Berlin 2012
231 Seiten, 22.95 Euro