IM in Rostock

Das Schweigen des Schwulen-Aktivisten und Stasi-Spitzels

15:20 Minuten
Das Restaurant Teepott und flanierende Passanten an der Strandpromenade Warnemünde 1973.
Die Strandpromenade in Rostock-Warnemünde. In der Hansestadt konzentriert sich der Spitzel in den 1980er-Jahren auf den "Arbeitskreis Homosexualität". © imago / Marco Bertram
Von Nathalie Nad-Abonji  · 24.04.2020
Audio herunterladen
Ein schwuler Mann hat sich in der DDR für die Sache der Homosexuellen eingesetzt – und gleichzeitig Mitstreiter ausspioniert. Nach langem Schweigen spricht er nun über seine Spitzelarbeit. Kommt das zu spät? Auch der Partner eines Opfers äußert sich.
In den Fernsehbeiträgen und Zeitungsartikeln zum 30-jährigen Jubiläum von "rat und tat" steht Thomas Möller nach wie vor im Rampenlicht. Schließlich hat er den Verein für sexuelle Vielfalt in Rostock 1990 mitbegründet. Von seiner Vergangenheit als Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit ist dagegen nirgends die Rede. Weder in den Medien noch öffentlich durch den Verein.
Doch der 77-Jährige ist mittlerweile bereit, darüber zu sprechen – mehr als 30 Jahre nach dem Mauerfall. Thomas Möller – das ist nicht sein richtiger Name – sitzt im Wohnzimmer seiner kleinen Wohnung in einer Plattenbausiedlung. Der Rentner lebt allein und, wie er selbst sagt, in bescheidenen Verhältnissen.

Erstkontakt über die FDJ

In den 1960er Jahren lernt er als junger Mann Schiffselektriker und bildet sich dann mit einem Fernstudium weiter, fängt danach als Sekretär bei der Bezirksleitung der Freien Deutschen Jugend an, der FDJ. Dort ist er für Kulturveranstaltungen zuständig und dort kommt er auch erstmals in Kontakt mit dem Geheimdienst der Deutschen Demokratischen Republik.
"Wir hatten dort einen ganz offiziellen Verbindungsmann zur Staatssicherheit, der dann zu mir kam und sagte, 'Komm, lass uns mal in einen Raum gehen'. In der Post, das erinnere ich noch sehr genau. Und hat gesagt, 'Hör mal zu, wir brauchen Mitarbeiter und du weißt, wie die Situation ist.'", sagt Möller. "Ich war zu diesem Zeitpunkt zu 150 Prozent DDR-Bürger. Ich war für die DDR."
Ein überzeugter Genosse also. Seit er 1961 seinen Dienst bei der Nationalen Volksarmee geleistet hat, ist er auch Parteimitglied der SED, der Sozialistischen Einheitspartei der DDR.

Seine Homosexualität macht Möller interessant

Für die Stasi ist Thomas Möller damals hochinteressant: Durch seine Arbeit in der FDJ hat er gute Kontakte zu Studierenden und in die Kunst- und Kulturszene. Außerdem weiß die Stasi, dass Thomas Möller homosexuell ist und sich in diesen Kreisen auch auskennt – in Rostock und darüber hinaus.
Im Dezember 1971 unterschreibt der damals knapp 30-Jährige freiwillig seine Erklärung, um als Inoffizieller Mitarbeiter zu spionieren. Er macht sich schnell einen Namen bei der Stasi – gilt als zuverlässig und klug. "Ich habe zu Geburtstagen und Weihnachten Präsente bekommen und ich habe auch eine Auszeichnung bekommen. Die Verdienstmedaille der NVA in Bronze."
Die bekommt er laut Akten, weil die Staatssicherheit mit Hilfe seiner Informationen eine Schleusung verhindern kann – also, dass Menschen verbotenerweise anderen dabei helfen, aus der DDR zu fliehen. Später kommt eine weitere Medaille dazu. Und immer wieder auch Geld. Die Staatssicherheit heftet alle Belege fein säuberlich ab. Heute liegen sie den Akten bei, die bei der Stasiunterlagenbehörde einzusehen sind.
"Mir war schon klar, dass ich Leute verrate. Weil es ja alles konspirativ ablief. Sonst könnte man es ja auch öffentlich machen. Das hat mich schon belastet", sagt Möller heute.

Kein Gedanke ans Aufhören

Und doch sind Möllers Gewissensbisse in den 17 Jahren seiner Stasi-Mitarbeit nie so stark, dass er ans Aufhören denkt. Im Gegenteil: Mitte der 1980er-Jahre konzentriert er sich als IM ganz auf den "Arbeitskreis Homosexualität" in Rostock. Zu dieser Zeit wächst DDR-weit die Toleranz gegenüber Homosexuellen und in vielen Städten gründen sich solche Arbeitskreise. Schwule Männer und lesbische Frauen treffen sich regelmäßig, tauschen sich über ihre Lebensverhältnisse aus und organisieren Veranstaltungen.
Homosexuelle werden in der Gesellschaft sichtbar. Diese Arbeitskreise sind meist an die Kirche angeschlossen. In Rostock beispielsweise an die Evangelische Studentengemeinde. Von Anfang an gehört Thomas Möller als schwuler Mann zur Leitung dieses Kreises.
Gleichzeitig hat er als Inoffizieller Mitarbeiter den Auftrag, seine Mitstreiter zu bespitzeln. "Da ging es darum, was von wem im Arbeitskreis gesprochen wird. Wir haben ja als Arbeitskreis unsere regelmäßigen Veranstaltungen gemacht – alle 14 Tage in der Petrikriche. Da ging es darum herauszufinden, wie denken die Leute dort. Wie stehen sie zu Partei und Regierung. Ich sage mal, das Übliche."

Forschung über Homo- und Transsexualität in der DDR

Über den Umfang und die Ambivalenz, die aus Möllers Berichten für die Stasi spricht, ist der Historiker Florian Ostrop erschüttert. Er hat die Akten im Rahmen seiner Forschungen über schwules, lesbisches und transsexuelles Leben in Mecklenburg gelesen.
"Das war schwarz im Sinne von andere verpetzen, ans Messer liefern. Ihnen schwere Nachteile dadurch zuzufügen", sagt Ostrop. "Und auf der anderen Seite dieses selbst Handelnde und selbst betroffen sein und selbst für die eigene Sachen – mit denen, über die berichtet wird – auch etwas erreichen wollen. Das ist schon eine ziemlich komplizierte Gemengelage gewesen."
Kurz und knapp: Thomas Möller setzt sich mit seinen Mitstreitern für die Sache der Homosexuellen ein, während er sie gleichzeitig ausspioniert.
Die Bespitzelung seiner Freunde und Mitstreiter befördern Thomas Möller 1985 in die bedeutsamste IM-Kategorie. Die Stasi ernennt ihn zum IMB. Diese sogenannten IMBs gelten als wichtig, weil sie direkten Kontakt haben zu Personen, die der Geheimdienst als feindlich einstuft. Die knapp 4000 IMBs in der DDR sollen Andere nicht nur ausspionieren, sondern sie auch im Sinne der Stasi bearbeiten. Beispielsweise, um eine Vernetzung mit Homosexuellen in Westdeutschland zu verhindern.
Thomas Möller balanciert zeitweise auf einem schmalen Grat: Einerseits organisiert er für den Arbeitskreis Veranstaltungen und berät schwule Männer und lesbische Frauen – andererseits berichtet er seinem Führungsoffizier alles, was andere tun und sagen. Das gilt auch für den Gründer des Arbeitskreises Detlef Kuzia, der bereits 2017 verstirbt. Auf ihn hat es die Staatssicherheit damals besonders abgesehen.

Möllers Opfer

In der einst gemeinsamen Wohnung lebt noch immer sein langjähriger Lebenspartner, Klaus Rädnitz. Die beiden Männer lernen sich erst nach dem Mauerfall kennen. Zu DDR-Zeiten arbeitet der homosexuelle Journalist Detlef Kuzia für die CDU-nahe Zeitung "Der Demokrat". Ihm ist damals klar, dass er gleich von mehreren IMs bespitzelt wird. In einigen Fällen ahnt er, wer dahintersteckte, in anderen nicht.
Gleich nach der Wiedervereinigung beantragt er, seine Stasi-Akten einzusehen. Nach neun Jahren ist es dann endlich soweit. Klaus Rädnitz ist damals schon mit Detlef Kuzia zusammen und kann sich noch gut erinnern: "Er ist zwei Tage dahingefahren und wollte eigentlich noch mehr lesen. Hat aber am dritten Tag gesagt, er schafft es nicht mehr. Mehr möchte er jetzt gar nicht mehr wissen. Man kann ja querlesen und er hat sich so Zeitabschnitte rausgesucht. Da war er tief enttäuscht, dass selbst im inneren Kreis einer so dicht dran war. Der Herr Möller. Da war er ganz tief enttäuscht."
Ein Beispiel aus den Akten: Kuzia und Möller treffen sich Ende der 1980er Jahre in Kuzias Wohnung, um eine Veranstaltung des Arbeitskreises zu planen. "Dann sollte Möller – wer auch immer ihm den Auftrag gegeben hat - eine Aufstellung machen über Bücher. Was der Herr Kuzia an Büchern hat. Ob darunter subversive Bücher waren. Jedenfalls hat Möller das nicht gemacht und geschrieben, die Bücher waren abgehängt. Da hat mein Detlef zu mir gesagt, so ein Quatsch, ich habe nie ein Laken über die Bücher gehängt. Ich habe maximal ein Laken über das Bett gehängt, damit es ordentlich aussah. Und die Stasi hat daraus gemacht, dass er etwas zu verbergen hat und sind daraufhin in die Wohnung eingedrungen."

IM und Opfer gründen gemeinsam "rat und tat"

Nach der Einsicht seiner Stasi-Akten weiß Detlef Kuzia, dass er von seinem Freund und Mitstreiter Thomas Möller jahrelang bespitzelt worden ist. Und doch scheut er sich davor, ihn darauf anzusprechen. Denn auch nach dem Mauerfall sind beide Männer nach wie vor eng verbunden durch ihr Engagement für Homosexuelle. 1990 gründen sie in Rostock gemeinsam den Verein für Lesben und Schwule "rat und tat".
Es ist sein Lebenspartner Klaus Rädnitz, der 1999 auf eine Aussprache zwischen den beiden Männern drängt. "Ich fand es wichtig, damit diese Spannung weg ist. Es hat dann länger gedauert, bis ich beide soweit hatte, dass sie sich mal treffen. Dann habe ich mich kurz mit an den Tisch gesetzt, damit kurz ein Gespräch zustande kam. In dem Sinne hatten sie sich ja nicht mehr viel zu sagen. Als es dann um die alten Zeiten ging, warum er das gemacht hat, bin ich dann in die Wohnstube gegangen."
Das Gespräch, das dann folgt, beurteilen die beiden Männer auch 20 Jahre später immer noch sehr unterschiedlich. Thomas Möller – das ist nicht sein richtiger Name – der ehemalige Inoffizielle Mitarbeiter sagt: "Wir haben unseren Frieden gefunden und haben uns danach immer in die Augen sehen können und für ihn war das erledigt."
Klaus Rädnitz schüttelt den Kopf. Das widerspricht dem, was Detelf Kuzia seinem Lebenspartner direkt nach dem Gespräch anvertraut hat. Denn von da an möchte Detlef Kuzia nichts mehr mit Thomas Möller zu tun haben, behält aber sein Wissen über dessen IM-Vergangenheit für sich. "Detlef hat zu mir gesagt, der Herr Möller hat überhaupt keine Reue gezeigt. Er hat so getan, als ob es gottgewollt und unabdingbar war, dass er diese Arbeit in diesem Umfang machen musste."

Vergangenheitsbewältigung bleibt aus

Tatsächlich sind Möllers Berichte auffallend detailliert geschrieben, sagt der Historiker Florian Ostrop, der sie gelesen hat. "Die Stasi wusste immer sehr genau, was im Arbeitskreis Homosexualität vor sich ging. Wusste auch in politischer Hinsicht sehr genau – gegen Ende der DDR merkt man das auch noch – es wird ja bis kurz vor dem Mauerfall berichtet."
Nach der Wiedervereinigung arbeitet Thomas Möller stillschweigend mit denselben Menschen daran, die Lebensbedingungen für Homosexuelle in Rostock und Umgebung zu verbessern. "Ich habe einen Fehler gemacht, dass ich 1990 nicht gesagt habe, hört mal zu liebe Freunde: Ich bin IM gewesen. Ich habe aber Angst gehabt."
Der heute 77-Jährige hat damals Angst vor Verfolgung, Angst um seinen Ruf und Angst um seine ABM-Stelle im Schwulen- und Lesben-Verein "rat und tat".
Dabei munkelt man dort schon länger, er habe zu DDR-Zeiten für die Stasi spioniert, erzählt Eckhard Brickenkamp. Mit solchen Gerüchten müsse man allerdings vorsichtig umgehen, meint er. Auch er ist Vereinsmitglied und war bis vor kurzem im Vorstand von "rat und tat": "Ich habe mich definitiv immer hinter ihn gestellt, um ganz klar Kante zu zeigen, dass man sowas nicht tut. Wenn man keine Beweise hat, redet man nicht darüber. Und wenn man Beweise hat, dann sollte man darüber reden und dann wäre es mir lieb, wenn man offen und ehrlich darüber redet."

Impuls durch die Forschung

Diese Beweise liegen seit der Forschungsarbeit des Historikers Florian Ostrop vor. Der Vereinsvorstand von "rat und tat" ist seit mehr als einem halben Jahr darüber informiert. Vor einigen Monaten kommt es zu einer ersten Aussprache mit Thomas Möller.
Im kleinen Kreis spricht Möller dort erstmals über seine Stasi-Vergangenheit. "Die Frage wurde mir oft gestellt, ob ich jemandem geschadet habe. Ja, könnte man als Schaden bezeichnen, diesen Eingriff. Ja, einverstanden. Aber mehr weiß ich einfach nicht. Weil ich nicht weiß, was aus meinen Informationen gemacht wurde. Wie wurden die genutzt. Darüber habe ich ja keine Informationen bekommen. Insofern kann ich sagen, ich habe keinem geschadet, dass er inhaftiert wurde oder so."
"Sie wissen es nicht."
"Ich weiß es nicht."
Stasi-Mitarbeiter wie Thomas Möller können bis heute bei der Stasiunterlagenbehörde nur ihre eigene Akte einsehen – also beispielsweise, was Möllers Führungsoffizier von ihm hielt und wie ihn die Staatssicherheit einschätzte. Was er über andere berichtet hat, bleibt seinen Erinnerungen überlassen.

Persönliche Folgeschäden

Der Historiker Florian Ostrop hingegen hat die Berichte gelesen. "Ob es der Sache geschadet hat – der Toleranz für homosexuelles Leben, wie es damals in der DDR diskutiert wurde – geschadet hat? Das glaube ich nicht. Aber persönlich geschadet auf jeden Fall. Doch."
Beispielsweise Detlef Kuzia, der zu DDR-Zeiten von Thomas Möller und weiteren Inoffiziellen Mitarbeitern rund um die Uhr beobachtet wird. So gelingt es der Staatssicherheit, den Journalisten in Schach zu halten und ihm zumindest beruflich wo es nur geht, Hindernisse in den Weg zu legen.
Klaus Rädnitz, Kuzias Lebenspartner, vermutet heute, Thomas Möllers Bekenntnis ist vor allem aus der Not geboren. "Wenn der Druck nicht so groß geworden wäre, bin ich der festen Überzeugung, dass der Möller das immer noch nicht gemacht hätte. Das Geständnis hätte 20 Jahre früher sein müssen."
Ein Geständnis wäre damals für seinen Lebenspartner Detlev Kuzia sicher ein erster Schritt gewesen. Noch hilfreicher wäre es allerdings gewesen, hätte Thomas Möller seine Taten noch zu Kuzias Lebzeiten ehrlich bereut. "Es ist ein großer Verlust, dass derjenige, der die Hauptzielscheibe dieser Aktivitäten war und der auch am meisten darunter gelitten hat, in seinem damaligen Leben... Aber ich vermute, dass er bis zu seinem Tod darunter gelitten hat. Und das ist, finde ich persönlich, eine ganz große Tragödie, die darin steckt, dass er an diesem Aufarbeitungsprozess nicht mehr teilnehmen kann."

Aufarbeitung der Vereinsgeschichte

Ob dieser Prozess überhaupt in Gang kommt, steht noch nicht fest. Aus Sicht von Eckhard Brickenkamp ist eine Aufarbeitung der Vereinsgeschichte dringend notwendig. "Dieser Verein wird in diesem Jahre 30 Jahre alt, das ist eine gute Chance das nochmal zum Thema zu machen und sich damit auseinanderzusetzen. Im Übrigen nicht nur über den Umgang zu DDR-Zeiten. Ich finde auch über den Umgang nach der DDR und über das Stillschweigen, man muss schon beinahe sagen, über das Totschweigen dieses Themas. Nachdem es bekannt wurde. Wie sind wir damit umgegangen? Sind wir damit richtig umgegangen? Und dann muss man die richtigen Schlüsse daraus ziehen."
Mehr zum Thema