"Im Entschwinden so nah" von Barbara Keifenheim

Gemeinsam durch die Demenz

Zwei Hände halten sich gegenseitig.
Zwei Hände halten sich gegenseitig. © picture-alliance/ ZB / Patrick Pleul
Die Autorin Barbara Keifenheim im Gespräch mit Sigrid Brinkmann · 25.07.2015
Als Anthropologin hat Barbara Keifenheim fremde menschliche Welten erforscht. So ähnlich erging es der Autorin des Buchs "Im Entschwinden so nah" auch im Umgang mit ihrer dementen Mutter. Eine ihrer Erkenntnisse schilderte sie im Deutschlandradio Kultur: "Das Leben hängt immer an einem Fädchen."
Das Phänomen der Alzheimer-Demenz ist brutal: Schrittweise oder auch sprunghaft geht das Gedächtnis verloren, heftige Emotionen und starke innere Bilder suchen die Betroffenen heim. Auch das Leben der Angehörigen wird regelrecht umgestürzt.
Die Kultur- und Sozialanthropologin Barbara Keifenheim hat ein Tagebuch über die Zeit geführt, in der ihre Mutter an diesem Krankheitsbild litt und auch daran gestorben ist. In der Lesart erzählt sie von den Ängsten, die ihre Mutter durchstehen musste: Die regelrechten Panikattacken ihrer Mutter seien völlig unvorhersehbar gekommen und gegangen. "Wir waren jeden Tag einem anderen Moment, einem anderen Zustand ausgeliefert." Zwar gebe es auch Demenz-Erkrankte, die kindlich-glücklich werden. "Das war leider bei meiner Mutter nicht der Fall."
Dramatische Schübe erschweren den Alltag
Wichtig sei für sie als Tochter gewesen, aus dem Mitleiden herauszufinden. Sie habe sich gefragt: Was kann ich aus dieser Erfahrung lernen?
"Das war für mich ein entscheidender Schritt, mich nicht erdrücken zu lassen von dem Alltagsgeschehen und den manchmal dramatischen Schüben."
Barbara Keifenheim beschreibt im Lesart-Gespräch wie im Buch nicht nur ihren Alltag mit der Mutter, sondern die Schlüsse, die sie daraus gezogen hat. Seither sei ihr jeder Moment viel bewusster:
"Das Leben hängt immer an einem Fädchen, es kann von einem Tag auf den anderen anders werden. Das hat mich dazu gezwungen zu unterscheiden: Was ist für mich wichtig im Leben? Und das Wichtige auch nicht auf die lange Bank zu schieben."
Die Mutter vergaß, Buchseiten zu blättern und riss sie durch
Für diese Lehre sei sie ihrer Mutter – trotz aller Schwierigkeiten – sehr dankbar.
"Im Entschwinden so nah" von Barbara Keifenheim (Buchcover)
"Im Entschwinden so nah" von Barbara Keifenheim (Buchcover)© Herder-Verlag
Als Anthropologin erforschte Barbara Keifenheim zeit ihres Berufslebens fremde menschliche Welten. Das, sagt sie, habe ihr auch geholfen, die fremde Erlebniswelt ihrer Mutter zu verstehen und ihr scheinbar unsinniges Verhalten einordnen zu können:
"Als meine Mutter vergessen hatte, dass man die Seiten eines Buches umblättert, war es für sie richtig und normal, die Seiten herauszureißen, um im Buch weiterzukommen."
Eine wichtige Erkenntnis, um gelassener mit Defiziten umgehen zu können und sich weniger ärgern zu müssen über die Widrigkeiten der Alzheimer-Demenz.
Barbara Keifenheim hat Romanistik, Geschichte, Psychologie und Ethnologie studiert. Zuletzt lehrte sie an der Viadrina-Universität (Frankfurt/Oder) vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie. Sie machte ethnologische Filmdokumentationen im Amazonasgebiet und in China. Heute lebt Barbara Keifenheim in Berlin.

Barbara Keifenheim: Im Entschwinden so nah
Abschied von meiner Mutter - Ein Alzheimer-Tagebuch
Verlag Herder, 208 Seiten, 17,99 Euro

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