Geriatrische Medizin

Im Alter sind Menschen anders krank

29:59 Minuten
Ein Krankenpfleger hilft einem älteren Mann vom Bett in den Rollstuhl
Im Krankenhaus ist die Altersmedizin in den letzten Jahren stetig ausgebaut worden. © imago images/Panthermedia/Kzenon
Von Andrea und Justin Westhoff · 29.06.2020
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Hauptsache gesund – dieser Wunsch verliert bei Älteren und Hochbetagten an Bedeutung. Krankheiten gehören in dieser Lebensphase dazu. Umso wichtiger: eine geriatrische Behandlung und individuelle Betreuung. Doch es gibt Defizite im Gesundheitssystem.
Ärztin: "Wie geht’s Ihnen?"
Patient: "Na, so lala, möchte ich mal sagen, also es geht schon ganz gut, aber die Schmerzen sind nicht ganz weg…"
Die Internistin Brit Ukrow hat seit 14 Jahren eine Hausarztpraxis in der brandenburgischen Kreisstadt Luckenwalde.
"Ich würde schon sagen, dass der größere Teil Ü70, Ü80 ist, zum Teil sind sie dabei ja auch gut drauf. Sie sind zwar mit vielen Medikamenten versorgt, aber die Patienten sind allein, sie sind nicht mehr mobil, sie wissen gar nicht, wie sie herkommen sollen. Die Familie hat entweder keine Zeit oder es gibt gar niemanden, und dann versuchen wir alles möglich zu machen, was irgendwie geht."
Auch Allgemeinmediziner Dr. Christopher Marchand hat viele ältere und hochbetagte Patienten in seiner Praxis in Berlin-Charlottenburg, die er oft auch zu Hause aufsucht.
Arzt: "Vom Laufen her? Wie geht es?"
Patientin: "Schlecht… Wenn wir rausgehen, dann gehen wir mit dem Wheelchair, weil ich nicht lange laufen kann."
Karin Stötzner ist Patientenbeauftragte für Berlin.
"Ein großes Krankheitsfeld sind die Krankheiten, die auf Pflege und Hilfe der Familie angewiesen sind: Parkinson, MS, aber vor allen Dingen das große Feld der Alzheimererkrankungen. Wenn man diesen Bereich in Betracht zieht, dann habe ich eine ganze Reihe von Beschwerden, die sich auf medizinische Versorgung beziehen; die wenigen pflegenden Angehörigen, die wir haben, denen darf man die Last, Hilfe zu finden, nicht alleine überlassen."
Unser Gesundheitswesen ist leider in hohem Maße biomedizinisch ausgerichtet, bedauert Dr. Günther Jonitz, Präsident der Berliner Ärztekammer. Medizinische Diagnosen stehen bei der Behandlung und Honorierung im Vordergrund. "Aber was der alte Mensch am meisten braucht, das ist Zeit, Zeit für Zuwendung, Zeit zum Zuhören."

Im Alter: Mehrfacherkrankungen und atypische Symptome

Fast 18 Millionen Menschen in Deutschland sind älter als 65, etwa drei Millionen über 85 Jahre. Sie sind zwar – ebenso wie jüngere – unterschiedlich fit, es gibt also nicht "die" alten Patienten. Jedoch leiden sie häufig unter ähnlichen alterstypischen Gesundheitsproblemen: Viele sind nicht mehr so beweglich und mobil, sind dauerhaft von Schmerzen geplagt, und auch die kognitiven Fähigkeiten lassen nach. Oft kommen sogar mehrere manifeste Krankheiten zusammen.
"Multimorbidität ist ein typisches Merkmal des alten Menschen, vor allem chronische Erkrankungen, das ist tatsächlich ein ganz großes Problem bei alten Patienten: die atypische Krankheitspräsentation", sagt Ursula Müller-Werdan, Professorin für Geriatrie an der Charité.
Deshalb wurde dieses medizinische Fachgebiet, die Altersmedizin, in den letzten Jahren stetig ausgebaut. Allerdings werden die meisten älteren Patientinnen und Patienten tatsächlich in der hausärztlichen Praxis versorgt.

Hausarzt muss abwägen, sortieren, erklären

Sie haben oft eine dicke Patientenakte, die der Hausarzt immer "auf dem Schirm" haben muss, denn das Abwägen, sei eine seiner Hauptaufgaben, sagt Dr. Christopher Marchand:
"Was ist wichtig, was ist weniger wichtig, was ist für den Patienten wichtig, das ist ja ein großer Unterschied zwischen: was die Leitlinien sagen und was den Patienten gut tut. Ein konkretes Beispiel: ein Patient, der hat eine Polyarthrose, kann sich schlechter bewegen, und bekommt jetzt eine Herzschwäche, da würde man jetzt erst mal nicht an seine Polyarthrose denken, sondern da denkt man nur, okay, das ist jetzt etwas, was ihn akut bedrohen könnte.
Also, einerseits, was muss gemacht werden und dann eben wieder sich auf das Ganzheitliche konzentrieren und dann für diesen älteren Patienten eben nicht die gesamte Diagnostik dann fahren, vielleicht nicht mehr sofort dran denken, oh, ich muss Dich ins Krankenhaus einweisen, sondern adäquat zu der aktuellen Situation des Patienten dann eine Lösung finden."
Und noch etwas ist schwierig im Umgang mit alten Patienten und Patientinnen.
"Im Alter ist diese Problematik, was ist noch okay, und was ist schon pathologisch. Kann ich noch sagen, ja, mein Gott, der ist ein bisschen vergesslich, und was wird dann schon zu einer manifesten Störung, die dann eben das Alltagsleben beeinträchtigt. Es ist manchmal sehr schwierig, das anzusprechen, das wird teilweise von Patienten ganz anders gesehen, ihre Möglichkeit, sich selbst noch zu versorgen, schätzen sie noch relativ gut ein, man selbst sieht das dann eben nicht ganz so, das ist nicht einfach mal in fünf Minuten gemacht."
Auch der Kontakt mit Angehörigen ist zeitaufwendig, aber Alltag für Hausärzte. Denn 40 Prozent aller Patienten über 80 haben neben körperlichen Erkrankungen auch Demenzen.
Alte Hand mit zwei Tabletten 
Da viele ältere Menschen mehrere Medikamente einnehmen, müssen sie immer wieder neu aufeinander abgestimmt werden.© imago images/photothek/Ute Grabowsky
Die meisten älteren Patientinnen müssen viele Medikamente für ihre oft ganz unterschiedlichen Beschwerden nehmen.
"Wo man immer wieder mal gucken muss, muss da vielleicht auch wieder mal ein bisschen was sortiert werden, kann man da irgendwie mal was weglassen oder aufzupassen: die heißen anders, sind aber trotzdem die gleichen, also da eine Kontrolle zu haben, was nehmen sie da eigentlich alles und passt das überhaupt zusammen", sagt Brit Uckrow.
Dieses "Sortieren" ist eine weitere zentrale Aufgabe von Hausärzten wie Brit Ukrow. Denn die Patienten gehen ja meist noch zu mehreren Fachärzten, die nicht immer genau nachfragen, welche Medikamente sie denn sonst so einnehmen.

Medikamenteneinnahme immer wieder neu erklären

Nach einer stationären Behandlung blicken nicht nur, aber vor allem ältere Menschen oft gar nicht mehr durch. Diese Erfahrung macht auch Christopher Marchand.
"Die Problematik haben wir ständig, wenn wir Patienten aus dem Krankenhaus wieder zurück in unsere hausärztliche Praxis bekommen, dass teilweise eben Medikamente plötzlich komplett umgestellt sind, das ist nicht nur für den Patienten, das ist auch für uns eine Herausforderung, das auch wieder neu zu erklären, welches Medikament für was da ist und warum es Sinn macht. Man muss auch mal ein bisschen hören, es bringt nix, dem Patienten da irgendwas draufzudrücken und er nimmt’s dann nicht."
Das kann aber auch durch eine zunehmende Vergesslichkeit älterer Menschen passieren. Die 81-jährige Patientin von Christopher Marchand hat schwere Arthrose und große Schmerzen. Dagegen bekommt sie Opiatpflaster, aber die müssen regelmäßig erneuert werden.
Patientin: "Ich konnte die nicht nehmen, weil ich vergessen habe, das zu wechseln, das ist fünf Tage her jetzt."
Arzt: "Na gut, das ist natürlich blöd."
Patientin: "Ich bin sehr vergesslich."
Arzt: "Ja gut, aber dann werden Sie es merken, dann kommen Sie in so einen Mangel, und dann tut das natürlich weh. Und der Schwindel, weil da wie so ein Entzug entsteht, ja, gerade bei diesen Morphinpflastern."

Wer Zeit bekommt, fühlt sich besser versorgt

Weil ältere Patienten mehr chronisch als akut krank sind, suchen sie auch bei ihrem Arzt oder ihrer Ärztin eher ein offenes Ohr als die schnelle Tablette.
Viele sind einsam, haben das Bedürfnis zu reden. In der Praxis von Brit Ukrow gibt es notfalls sogar einen Raum, wohin man sich zu einem Gespräch zurückziehen kann. Die Luckenwalder Hausärztin weiß, dass ältere Patienten häufiger zum Arzt gehen. Sie haben mehr Zeit, und warten notfalls auch geduldig, aber dann wollen sie auch mehr "Sprechzeit" bekommen, sagt Brit Ukrow.
"Hier auf die Uhr zu gucken, das funktioniert nicht. Manchmal, zum Beispiel in der Infektzeit, da geht das hintereinander weg, und dann geht das alles nur kurz, aber es gibt auch Tage, da sitzen nur fünf Leute im Wartezimmer, und bei jedem dauert es lange, weil, der hat seine ganzen Probleme gesammelt. Und die muss er alle an dem einen Tag loswerden. Und da kommt man vom Hundertsten ins Tausendste und – ja – da kann auch mal so Zeit vergehen dabei. Aber wenn sie sich hinterher gut versorgt fühlen, denk ich mal, dann macht das auch ganz viel aus."
Der Berliner Hausarzt, Christopher Marchand, erlebt das vor allem wenn er Patienten in ihrer Wohnung aufsucht.
"Es ist nicht immer ein Akut-Hausbesuch, sondern es ist einfach: Hören, wie geht’s, welche Probleme sind da gerade neu aufgetreten, was kann man noch machen, und es ist dann im weitesten Sinne ein Sozialkontakt, der nicht rein fokussiert medizinisch dann manchmal auch ist."

Wie komme ich zum Arzt?

Das größte Problem für viele ältere Patienten ist jedoch, dass sie immer größere Schwierigkeiten haben, in die Praxis zu kommen, besonders auf dem Land und besonders im Osten Deutschlands. Anders als in wohlhabenden urbanen Bezirken ist hier der Ärztemangel groß.
Die Praxis von Brit Ukrow in Luckenwalde hat einen Einzugsbereich von zehn Kilometern im Radius. Das ist noch vergleichsweise "nah" und trotzdem eine immense Hürde für viele ihrer Patienten. Denn die leben oft allein, die Kinder sind weggezogen, das soziale Netz wird immer dünner.
"Sie wissen gar nicht, wie sie herkommen sollen, die Situation: Wie soll ich’s machen? Zu Fuß schaff ich’s nicht, dann muss ich mir ein Taxi nehmen, das bezahlt mir niemand. Das Problem ist ja, dass die Patienten zum Teil berichten, dass sie gar kein Taxi kriegen. In der Richtung wäre so eine günstigere Fahrvariante schon eine Überlegung, was ja jetzt immer an Pflegegrad und solche Sachen gebunden ist, ob man das ein bisschen anders organisiert, um die Patienten in die Praxen zu bringen, um dieses Hausbesuchsproblem nicht groß werden zu lassen."

Viel zu wenig Hausbesuche

Aus Sicht der Berliner Patientenbeauftragten Karin Stötzner sind Hausbesuche bereits ein Riesenproblem:
"Es ist eigentlich gesetzliche Aufgabe der Hausärzte, Hausbesuche zu machen. Wir haben mal informell, weil wir so viele Beschwerden hatten, bei Praxen nachgefragt, und das Ergebnis für Berlin war, dass die Hälfte gesagt hat, sie können keine Hausbesuche mehr machen, weil sie sonst zu viele Patienten in ihrer eigenen Praxis vernachlässigen müssten."
Manche Ärzte wollen womöglich keine Hausbesuche machen, Pflicht hin oder her – eine Pflicht, die übrigens sogar für Zahnärzte, Orthopäden und andere Fachmediziner in bestimmten Notfällen gilt. Wobei sie selbst entscheiden, ob ein Notfall vorliegt. Aber selbst die Gutwilligen stoßen an Grenzen.
"Wir versuchen das schon irgendwo zu steuern, damit das nicht überhand nimmt, weil, wir haben nun mal die Sprechstunden-Zeiten, und das immer alles dranzuhängen, wird dann irgendwann auch nicht machbar", sagt Brit Ukrow.
Aber noch klappt es weitgehend bei Brit Ukrow. Und auch Christopher Marchand fährt an zwei Nachmittagen in der Woche zum Hausbesuch, mit der Vespa bei Wind und Wetter, damit nicht unnötig viel Zeit mit der Parkplatzsuche draufgeht.
Er hat immer einen großen Rucksack dabei, der auch den Anforderungen eines Notfallmediziners entspricht. Meist geht es jedoch um hausärztliche Routine.
"Den Blutdruck mal kontrollieren, manchmal komme ich auch und nehme gleichzeitig auch Blut ab, oder hier in diesem Falle, weil immer ein Eisendefizit da ist, mal ne Eiseninfusion, und dann reden wir manchmal einfach auch über private Dinge oder Dinge, die mal waren in der Vergangenheit, und dann düse ich wieder los."
Die 81-jährige Dame läuft tief gebeugt mit einem Rollator – nicht leicht, damit durch die kleine Wohnung zu navigieren. Doch sie kommt mit Pflegedienst-Hilfe noch allein zurecht, und mit der Unterstützung ihres Hausarztes - seit mehr als sieben Jahren.
Patientin: "Gott sei Dank mit den Medikamenten haben wir das sehr schön gelöst zwischen dem Apotheker und Dr. Marchand, weil ich nicht dorthin gehen kann.
Arzt: "Das Rezept geht direkt an die Apotheke und die liefern das hier."

Hausärzte versorgen auch Patienten im Pflegeheim

Aber wenn etwas ganz akut oder der Doktor in Urlaub ist, muss sie den Bereitschaftsarzt rufen. Das sind allerdings meistens keine Altersmedizin-Spezialisten, es kann sogar passieren, dass ein Hautarzt Dienst hat und nun dem Patienten mit Bauchschmerzen helfen soll. Häufig werden die Patienten dann ins Krankenhaus geschickt, und unter Umständen bleibt am Ende dann doch nur das Pflegeheim. Für diese Einrichtungen gibt es inzwischen zwar "Heimärzte". Aber oft ist der eigene Hausarzt, die eigene Hausärztin weiterhin zuständig.
"Wenn ein Patient von uns ins Heim kommt, dann wird er im Heim mit besucht."
Brit Ukrow besucht regelmäßig in zwei Pflegeheimen mehrere ihrer hochbetagten Patienten.
Eine Therapeutin übt in einer Geriatrie-Abteilung mit einer Patientin das Treppensteigen. 
Mobilität ist für viele ältere Menschen ein Problem - auch in Bezug auf Arztbesuche.© picture alliance / dpa Themendienst/Markus Scholz
Bei der Ankunft spricht die Ärztin zunächst mit dem Personal. Die Schwestern berichten anhand der Pflegeprotokolle über die einzelnen Patienten, wie es denen geht.
Vor allem über Schmerzen und Beweglichkeit wird gesprochen. Dann geht Brit Ukrow zu ihren Patienten, zum Beispiel zu einer 86-jährigen Dame, die nach einem Schlaganfall kaum sprechen kann, halbseitig gelähmt und bettlägerig, aber noch ganz klar ist.
Ärztin: "Ah, guten Tag! Wer bin ich denn?"
Patientin: "Frau Ukrow."
Ärztin: "Ja, wunderbar... Was macht denn die Schulter? Wir haben mal überlegt, ob wir Ihnen vielleicht mal ein Schmerzpflaster verpassen ? Vielleicht kann man dann auch, wenn wir Ihnen das Pflaster verpassen, den Arm ein bisschen mobilisieren. Weil, sonst steift Ihnen das ein."
Die Schmerzbehandlung soll nicht nur ihr Leiden lindern, sondern der alten Dame auch helfen, trotz des Schlaganfalls noch ein paar Dinge selbst zu machen, eine Tasse oder den Löffel zu halten zum Beispiel.
Ärztin: "Sie bemühen sich. Das find ich auch toll, dass Sie ihren Lebensmut nicht verloren haben und immer toll dabeibleiben."
Patientin: "Mach' ich."

Altersspezifisches Wissen bei Ärzten gefragt

Viele alte Menschen sind aber nicht nur immobil und haben mehrere Gesundheitsprobleme, sondern sie sind auch anders krank, sagt Ursula Müller-Werdan, Altersmedizinerin und Direktorin des Evangelischen Geriatriezentrums Berlin.
"Zum Beispiel ein Herzinfarkt hat gelegentlich beim alten Menschen eben die typischen Erscheinungen mit Herzschmerzen oder Atemnot, sondern präsentiert sich zum Beispiel als Übelkeit."
Bei alten Menschen verlaufen Infektionen heftiger, manchmal tödlich, so wie beim Coronavirus oder – wenn sie nicht geimpft wurden – bei der Grippe. Aber: Alte Menschen entwickeln häufig viel weniger Fieber bei Infektionserkrankungen, so dass eine schwere Infektion nicht sofort als solche erkenntlich ist.
Es braucht mehr spezifisches Wissen bei den Ärzten – auch über die Altersmedizin selbst. Denn Geriatrie bedeutet nicht, dass man "nichts mehr machen kann", sagt die Altersmedizinerin.
"Die Geriatrie ist eben gerade nicht primär eine Palliativmedizin, sondern unser Auftrag ist es, die alten Menschen nach einer schweren Erkrankung wieder zurückzubringen in ihr altes Leben. In ihre Selbständigkeit, in die eigene Häuslichkeit. Das ist natürlich nicht nur eine Leistung der Ärzte, sondern da spielen ganz viele Berufsgruppen mit, die Pflegenden, die Therapeuten verschiedenster Gruppen, Sozialarbeiter, also da spielt wirklich ein ganz großes Team mit, ja und häufig schaffen wir das auch."
Zum geriatrischen Wissen gehört zum Beispiel auch, dass alte Menschen genauso häufig unter Depressionen leiden wie junge. Das wird aber oft nicht erkannt.
"Man kann auch Depressionen im Alter sehr gut behandeln. Deswegen gibt es einen Standard in allen geriatrischen Kliniken, dass man ein Screening macht auf depressive Erkrankungen, und wir sollten diese Chance nicht verstreichen lassen, wenn der Patient stationär ist, dass man sich eben auch mit seiner seelischen Befindlichkeit beschäftigt."
Eine intensive Beschäftigung mit dem Thema Altersmedizin gab es in Deutschland erst sehr viel später als in anderen Ländern.
Aber inzwischen dämmert auch hierzulande Vielen, dass es sich dabei um eine Medizin handelt, die die sozialen und ökonomischen Probleme im Auge hat: Seit 2018 gilt bundesweit ein Geriatriekonzept, mit dem möglichst lange verhindert werden soll, dass ältere Patienten pflegebedürftig werden. Mit mehr Präventionsprogrammen sollen alterstypische Erkrankungen, wenn irgend möglich, vermieden oder der Ausbruch zumindest "nach hinten" verschoben werden.

Zu wenig Rehabilitation im Alter

Und wenn die Menschen dann vermehrt krank werden, sollen sie so schnell wie möglich eine "geriatrische Reha" bekommen.
"Sogar bei Patienten, die bereits im Pflegewohnheim leben, kann es sinnvoll sein, rehabilitative Maßnahmen durchzuführen, da gibt es sogar Untersuchungen, dass hier ein gewisses Potenzial nicht ausgeschöpft ist an Verbesserungsmöglichkeit für den Einzelnen, und man genau gucken muss: Was ist denn noch möglich, wo kann man noch eine Verbesserung erreichen?", erklärt Ursula Müller-Werdan.
Karin Stötzner hat aufgrund von Patientenbeschwerden allerdings die Erfahrung gemacht, dass zu wenige Ältere in den Genuss einer Rehabilitation kommen.
"Einmal klappen diese Übergänge aus der Klinik nicht, weil das angemessene Platzangebot in der entsprechenden Klinik nicht vorhanden ist, es fehlen auch Plätze für die ambulante Reha, und es fehlt auch an der Bereitschaft der Leistungserbringer, dass aktiv zu verordnen, sich darum zu kümmern, wahrscheinlich könnte ein großer Teil von alten Menschen mehr Angebote in dieser Richtung annehmen, wenn das besser organisiert wäre."

Altersmedizin im Krankenhaus hat sich verbessert

In der klinischen Versorgung dagegen funktioniert die Altersmedizin nach Ansicht der Patientenbeauftragten schon ganz gut.
"In den Krankenhäusern, denke ich, ist in den letzten Jahren, was die Versorgung alter Menschen anbetrifft, doch sehr viel passiert. Allein durch die Einführung der geriatrischen Komplexpauschale, die es den Krankenhäusern ermöglicht, ein ganzes Leistungsset, das alte Menschen besonders brauchen, anzubieten, das relativ gut finanziert ist, sind doch viele Kliniken dazu übergegangen, diesem Bereich auch mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Und Krankenhäuser sind für die Versorgung Kranker da, und die Mehrheit derjenigen, die krank sind, sind alte Menschen, also ist das sowieso die Hauptzielgruppe."
Und man versucht, mithilfe des Entlassungsmanagements dafür zu sorgen, dass die Behandlung auch zu Hause weitergeht, betont Ursula Müller-Werdan.
"Wo ich tatsächlich noch ein bisschen Bedarf sehen würde, bundesweit betrachtet, wären aufsuchende Angebote, also zum Beispiel eine mobile geriatrische Reha, die dann tatsächlich in die Häuslichkeit gehen und den Patienten dort versorgen, mit einem strukturierten Programm aus Rehabilitation, Pflege, ärztlicher Begleitung."
Aber ambulant funktioniert vieles nicht, gerade auch bei Demenzkranken, und hier insbesondere bei der Hilfe für Angehörige, sagt Karin Stötzner.
"Wenn man sich die Zielgruppe anguckt, dann habe ich eine ganze Reihe von Beschwerden, nämlich im Bereich Pflege, Kurzzeit-Pflege, Pflegedienste... Oft ist es so, bei zum Beispiel aggressiven alten, demenzkranken Personen, bei schwer pflegebedürftigen Personen treten oft Leistungsanbieter von ihrer Pflicht zur Versorgung zurück, lassen die Familien alleine, und das ist eine Stelle, auf die wir sehr dringend schauen müssen. Die wenigen pflegenden Angehörigen, die wir haben, die entlasten ja den Gesamtbereich erheblich."
Die Patientenbeauftragte, seit Jahrzehnten auch gesundheitspolitisch engagiert, beklagt, dass sich die Krankenkassen hier einen "schlanken Fuß machen" und sich aus der Verantwortung stehlen.
"Die Kassen können auch keine Pflegekräfte backen, das weiß ich. Aber ich finde immer: Die Krankenkassen kassieren jeden Monat den Beitrag. Es ist nicht in Ordnung, dass die Patienten und die Angehörigen, die Hilfe suchen, sich dann durch 70 Leistungsanbieter durchtelefonieren und immer wieder abgewiesen werden, denen darf man die Last, Hilfe zu finden, nicht alleine überlassen."

Der Streit über niedergelassene Altersmediziner

Auch deshalb argumentiert die Gesellschaft für Geriatrie: Wir brauchen niedergelassene Fachärzte und -ärztinnen für Altersmedizin. In wenigen Bundesländern gibt es die bereits, darunter in Berlin. Dr. Günther Jonitz, Präsident der Berliner Ärztekammer, unterstützt dieses Anliegen.
"Es ist jetzt schon so, dass in der allgemeinmedizinischen Weiterbildung ein starker Schwerpunkt in der Geriatrie ist, aber ich glaube, wir brauchen einen Facharzt für Innere Medizin und Geriatrie, weil die größten medizinischen Herausforderungen beim alten Menschen das Vorliegen von mehreren, meistens internistischen Krankheiten sind, und gleichzeitig die sehr subtile Abstimmung der Therapie auf den jeweiligen Einzelfall.
Was jetzt nicht heißt, dass jeder ältere Patient automatisch nur zum Facharzt für Innere und Geriatrie geht. Es ist auch gut so, dass die alten Patienten zentral zu ihrem Hausarzt gehen, der in der Regel auch den Patienten schon über einige Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte bereits kennt. Das eine schließt das andere nicht aus, wir brauchen beides."
Brit Ukrow, Hausärztin im Land Brandenburg, schwankt etwas.
"Manchmal wär’s vielleicht schon nicht verkehrt, dass da einer noch mal ein bisschen anders ein Auge drauf hat, weil das einfach im Eifer des Gefechts zum Teil untergeht. Na ja, vielleicht kommt da viel das Persönliche oder das Bauchgefühl so mit rein, dass man zum Teil sagt, na ja, der ist ja jetzt auch älter, da sind bestimmte Sachen einfach auch normaler. Gerade so Herzgeschichten. Ob es denn jetzt nun gut ist, wenn die mit 89 noch auf den Herzkathetertisch gezerrt werden, ist ja auch so eine Frage."
Medizinstudentin mit Landarzt bei einem Hausbesuch
In geriatrischen Kliniken bewerben sich zunehmend Berufsanfänger, sonst aber fehlt der Nachwuchs.© picture alliance/ZB/Waltraud Grubitzsch
Der Hausärzteverband ist vehement gegen einen Facharzt für Geriatrie, weil in den meisten Hausarztpraxen ohnehin vor allem ältere Patienten behandelt werden. Auch Dr. Christopher Marchand findet eine immer weitere Aufspaltung der medizinischen Versorgung in Unter-Disziplinen nicht sehr sinnvoll.
"Natürlich wird es immer besonders schwierige geriatrische Patienten geben, so wie wir besonders schwierige diabetologische Patienten haben, und da bin ich sehr, sehr froh, dass wir Fachkollegen und Fachkolleginnen haben, die wir um Rat fragen können. Aber für ein Begleiten eines Patienten, mit all seinen anderen Dingen, einen Zucker einzustellen – nee, das macht keinen Sinn. Das ist banal in Anführungszeichen, und da braucht man nicht noch einen Fachkollegen.
Wir behandeln hier, egal wie alt der Patient ist, Menschen, mit denen wir gemeinsam Entscheidungen treffen, und entweder macht man das gut oder man macht es nicht gut. Man braucht ein gewisses Fachwissen, man muss Dinge natürlich beachten, aber hat der Geriater dann so viel Zeit, wirklich differenziert zu gucken, ich erlebe auch die Fachkollegen in dem Zeitkorsett."

Bewerbungen von Berufsanfängern in geriatrischen Kliniken

Eine andere Frage ist, ob sich denn überhaupt genug junge Medizinerinnen und Mediziner finden, die sich ausschließlich um alte kranke Menschen kümmern möchten? Müller-Werdan ist optimistisch.
"Ich erlebe, dass zunehmend auch junge Berufsanfänger sich bewerben in den geriatrischen Kliniken, und das war früher nicht so der Fall, und das hängt natürlich zusammen mit den attraktiven Lehrangeboten im Medizinstudium."
Allerdings haben neuesten Meldungen zufolge zwei Drittel der "normalen" Krankenhäuser große Schwierigkeiten, Ärzte für die geriatrischen Abteilungen zu finden. Dabei, so Dr. Günther Jonitz, sei die Altersmedizin doch geradezu ideal.
"Gerade die junge Generation, die jetzt auf dem Sprung ist, legt Wert, dass sie eben Ärztinnen und Ärzte sein wollen und nicht Medizinerinnen und Mediziner, die sich um die Krankheiten kümmern isoliert, sondern die kümmern sich um den kranken Menschen.
Und das Fach der klinischen Geriatrie hat einen herausragenden Vorzug: Sie dürfen mit diesen alten Menschen gar nicht alles das machen, was die Medizin eigentlich grundsätzlich machbar sein lässt, sondern sie müssen mit sehr viel ärztlicher Expertise und Einfühlungsvermögen genau wissen, was sie alles nicht brauchen, um den Patienten optimal zu betreuen."

Mehr Zeit ist notwendig, wird aber nicht honoriert

Aber mit dem hehren Vorsatz der optimalen Betreuung alter Menschen ist das so eine Sache. Denn wie sagte Jonitz selbst eingangs so schön: "Was der alte Mensch am meisten braucht, das ist Zeit, Zeit für Zuwendung, Zeit zum Zuhören."
Und dieser höhere Zeitaufwand wird dem Hausarzt nicht entsprechend honoriert. Der Hausarzt erhält pro Patient und Quartal einen Pauschalbetrag, egal wie oft ein Patient kommt und wie aufwendig die Behandlung ist. Dazu kommen allenfalls noch kleinere Pauschalen für mehr Gesprächsbedarf, für Chroniker und für demente Patienten.
"Ich sehe das, wenn ich zum Beispiel so was wie eine Demenzabklärung mache, wenn ich mit den Angehörigen da bin, die häusliche Situation plus noch die ganzen Tests, bin ich locker eine dreiviertel Stunde unterwegs, ja. Das sieht keine Vergütungsleistung oder keine Ziffer irgendwie richtig. Genau das gleiche mit den Hausbesuchen: Wenn ich den Nachmittag dann sechs Hausbesuche mache, das dauert nun mal fast drei Stunden, könnt ich schön Sprechstunde machen, das würde ich ganz anders da abrechnen. Aber es gehört einfach dazu, wir sind Hausärzte, wir sollten das nicht vergessen – keine gute Sache, dass das nicht richtig wertgeschätzt wird."

Das System funktioniert nur durch persönlichen Einsatz

Derzeit funktioniert das Ganze tatsächlich fast nur über den persönlichen Einsatz des Arztes, gibt auch der Berliner Ärztekammerpräsident zu
"Ja, so ist es. Aber in der Beziehung befindet sich der normale Kassenarzt sowieso in einer sehr unerfreulichen Situation, weil selbst das Bundessozialgericht höchstrichterlich beschlossen hat, dass der Kassenarzt keinen Anspruch auf eine kostendeckende Honorierung hat. Das heißt, er ist da in einer ganz erheblichen Zwickmühle zwischen seinem ärztlichen Auftrag auf der einen Seite und dem, was Politik und Krankenkassen bereit sind, dafür zu bezahlen."
Aber wäre das Versorgungsproblem älterer Patientinnen und Patienten wirklich mit mehr Geld für die Hausärzte zu lösen?
"Da würde ich natürlich jetzt sagen: Ja, klar, muss ja, wir sind am unteren Ende, wenn man so die durchschnittlichen Gehälter...", sagt Christopher Marchand. "... nein, ich glaub', das geht nicht um rein monetäre Veränderungen der Situation. Das ist ein Strukturproblem. Wir wissen auch, dass wir viel, viel Fehlsteuerung haben, Dinge doppelt, dreifach machen, leider auch nicht klar sagen, wann ein Patient wirklich zum Arzt gehen sollte und wann nicht. Das ist nur rein mit Geld nicht zu machen."

Medizinische Leistungen delegieren

Den Hausärzten und -ärztinnen geht zum Beispiel unnötig Zeit verloren, weil das Pflegepersonal in den Heimen zu wenig Eigenständigkeit hat, meint Brit Ukrow:
"Die dürfen halt leider viele Sachen ja nicht alleine entscheiden. Da, wo ich zuhause an meinen Schrank gehe und mir ne Schmerztablette hole, das darf dann immer alles nicht sein. Da muss wegen jedem Hustensaft und jedem Schnupfen immer angerufen werden."
Auch Günther Jonitz, Mitglied im Vorstand der Bundesärztekammer, glaubt, dass organisatorische Veränderungen die unzureichende medizinische Versorgung alter Menschen verbessern könnte. Er plädiert für etwas, das viele Ärztefunktionäre lange vehement abgelehnt hatten, nämlich medizinische Leistungen an ärztliche Mitarbeiter abzugeben.
"Die Lösung des Problems der schlechten Mobilität der Älteren, gerade auch auf dem Land, und der eingeschränkten zeitlichen Ressourcen lässt sich unter anderem dadurch lösen, dass man sehr gezielt seine Hausbesuche macht, und der Königsweg derzeit ist die Delegation einiger ärztlicher Leistungen auf die medizinischen Fachangestellten.
Und, wenn sie es richtig machen, dann qualifizieren sie ihre Fachangestellten, und zwar so, dass sie eben sich gezielt mit den Herausforderungen bei älteren Menschen auskennen und die dann auch kleinere Verrichtungen beim Patienten macht und in der Regel mehr Zeit mitbringt, als der Hausarzt sie jemals haben könnte."
Karin Stötzner schließlich spricht sich aufgrund ihrer jahrzehntelangen Erfahrung mit Patientenproblemen und -interessen dafür aus, unser Gesundheitssystem als Ganzes auf den Prüfstand zu stellen.
"Wenn man die alten Menschen in den Fokus stellt, was man tun muss in der alternden Gesellschaft, dann bräuchte es bei der ambulanten ärztlichen Versorgung sicherlich ein ganz gravierendes Umdenken in Richtung einer stärkeren Unterstützung von Hausärzten und Allgemeinmedizinern.
Alle erwarten, dass die Hausärzte die Schaltstelle sind für die Versorgung, das angemessen steuern, dass sie bei alten Leuten sicherstellen, dass hausärztliche Versorgung stattfindet, das bedeutet: die brauchen mehr Zeit und die brauchen eine andere Honorierung, und man muss diese Art von Versorgung für alte Gesellschaften neu im Verhältnis zur fachärztlichen Versorgung und zur Geräteversorgung in den Blick nehmen."

Autoren: Andrea und Justin Westhoff
Sprecherin: Gabriele Blum
Regie: Frank Merfort
Ton: Jan Fraune
Redaktion: Constanze Lehmann

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