Im Acht-Matten-Zimmer der Takanos

19.08.2010
Ein junger, empfindsamer Dichter inmitten von Japans nationalistischer Radikalisierung kurz vor dem Zweiten Weltkrieg: Der Brite Andrew Miller hat einen feinen Familienroman geschrieben, in dem ein weltferner Träumer handeln muss, um sich zu retten.
Ein englischer Autor schreibt einen japanischen Roman. Sein Held ist nicht etwa ein Europäer, der mit fremden Augen Tokio betrachtet, sondern Yuji, ein 25-jähriger japanischer Dichter. In die Wirren des Erwachsenwerdens verstrickt, gerät er so unfreiwillig wie unentrinnbar in die nationalistische Radikalisierung seines Landes kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.

Aus dieser Perspektive zu schreiben, ist für einen Europäer ein mutiges Unterfangen. Doch Andrew Miller hat eine Weile in Japan gelebt. Und lotet ohnehin gerne neue Umgebungen aus. Auch in diesem Roman gelingt ihm das, akribisch, zart und sicher. Und so bannend in den Details, dass wir, begehrlich lesend, die Möglichkeit einer Diskrepanz zwischen Autor und Sujet vergessen. Wie selbstverständlich schildert er die ferne Atmosphäre. Erzählt, in welcher Reihenfolge Gast und Familienmitglieder in den Zuber steigen, wie es aussieht im Acht-Matten-Zimmer der Takanos, wie man in der Familie miteinander redet - oder schweigt.

Miller schreibt fadenfein. Seine Hauptfigur ist nicht nur empfindsamer Dichter, sondern auch schwach auf der Brust. Einmal im Jahr schreibt ein Freund seines Vaters einen Brief an die Musterungsbehörde. So wurde der junge Mann noch nicht eingezogen und fortgeschickt in den grauenvollen Krieg mit China. Zur Wut seiner Nachbarin, deren Enkel dort kämpft. Die nicht versteht, warum ausgerechnet die ohnehin bedenklich unpatriotische Familie Takano verschont wird. Yujis Vater musste die Universität verlassen, weil er in einer umfangreichen Abhandlung drei kaiserkritische Sätze geschrieben hatte. Seither darf man die Familie Takano, so empfindet es jedenfalls Yuji, nach Belieben beleidigen.

In kleinen Sätzen und kurzen Passagen, fast beiläufig eingestreut in die Geschichte, erfahren wir, dass sein älterer Bruder im großen Erdbeben von 1923 umgekommen ist, dass seine Mutter seither ihr Zimmer nicht mehr verlässt, dass das Geld knapp wird - was den verwöhnten Yuji erst einmal ratlos macht. Er lässt sich anwerben, ein Porträt zu schreiben über einen faschistischen Großschriftsteller, der von der Schönheit der Schlachten schwadroniert, von seiner Wollust angesichts der Toten und der Jugend der fallenden Soldaten, der dröhnend erklärt, die Opfer spielten keine Rolle, wenn nur die Geste schön sei.

Ob Yuji sich beeindrucken lässt von dem unheilvollen Mann? Oder ob die Angst vor den Verhältnissen ihn in den Opportunismus treibt? Sein Artikel wird wohlwollend. Und der Schriftsteller schenkt ihm zum Dank eine Anstecknadel mit blutrotem Rubin, Abzeichen einer mit dem Geheimdienst kooperierenden Gruppierung. Ein lebensrettendes Geschenk, wie sich zeigen wird. Denn Yuji lebt gefährlich. Gefährlich unjapanisch. Besucht einen Franzosen, schläft mit dessen Tochter, liest Rimbaud. Und bekommt mit der jungen Französin ein Kind.

Er, der so gern als Dichter leben möchte, weitab vom politischen Getümmel, muss sich schikanieren lassen vom heimgekehrten und verwundeten Nachbarsenkel, wird verwarnt selbst von Freunden, die verordneter Ausländerphobie anheimfallen. Immer häufiger wird ihm vorgeworfen, nicht zu kämpfen. Der weltferne Träumer muss handeln, um sich zu retten.

Seine Geschichte, von Andrew Miller diskret und unverhüllt zugleich erzählt, schleicht sich mit leisen Tönen ins Hirn. Wo sie sich festsetzt.

Besprochen von Gabriele v. Arnim

Andrew Miller: "Nach dem großen Beben". Roman
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Zsolnay Verlag, Wien 2010
384 Seiten, 21,90 Euro
Mehr zum Thema