Ilja Trojanow: "Nach der Flucht"

Wie tief prägt eine Fluchterfahrung?

Cover von Hörbuch "Nach der Flucht", Flüchtlinge an der syrisch-türkischen Grenze.
Cover von Hörbuch "Nach der Flucht", Flüchtlinge an der syrisch-türkischen Grenze. © Argon Hörbuch / picture alliance / dpa / Vassil Donev
Von Georg Gruber · 13.06.2017
Ilija Trojanow ist als Kind zusammen mit seiner Familie aus Bulgarien geflohen. In seinem neuen Buch erzählt der Autor zwar von sich selbst, behandelt sich aber zugleich als exemplarische Figur. So gelingt ihm eine behutsame und genaue Topografie des Lebens "Nach der Flucht".
"Nichts an der Flucht ist flüchtig. Sie stülpt sich über das Leben und gibt es nie wieder frei."
Warum das so ist und wie sich das Leben ändert, davon erzählt Ilija Trojanow hier in 198 Miniaturen. Sie reihen sich aneinander, wie Perlen, die durch ein Band – die Flucht – verbunden sind. Unterteilt in zwei Kapitel, "Von den Verstörungen" und "Von den Errettungen". Einige Texte sind nur ein oder zwei Zeilen lang, daneben stehen Dialoge oder Schilderungen aus dem Alltag von Geflüchteten. Vieles klingt autobiographisch, Ilija Trojanow floh als 6jähriger mit seiner Familie aus Bulgarien über Jugoslawien und Italien nach Deutschland.
"Manchmal beschleicht ihn das Gefühl, seine Kindheit sei in der Muttersprache eingeschlossen und er müsse aus der Kindheit in eine Fremdsprache übersetzen. Ohne Wörterbuch."
Bewußt sagt Ilija Trojanow nicht "ich", sondern "er". Denn was er erfahren hat, ist exemplarisch. Niemand flieht ohne Grund. Und auch, dass nach der Ankunft die Hoffnungen schwinden, erleben viele:
"Von Anfang an entspricht das Neuland nicht den Erträumungen. Zelte Barracken Auffanglager. Wie bitte, im gelobten Land? Behördengänge Warteschleifen Leerläufe. Überall und mittendrin im gelobten Land. Warten Warten Warten."
Der heute 51-Jährige erzählt von der Fremdheit in der Fremde. Von den Hürden auf dem Weg in ein neues Leben. Von der Suche nach der eigenen Identität.
"Der Geflüchtete ist sich bewusst, dass sein Leben ganz anders hätte verlaufen können. Neben ihm schwebt der Geist eines weniger glücklichen Ausgangs. Er gedenkt der Getöteten, der Zurückgebliebenen. Er weiß von Menschen, einen Schicksalsschlag von ihm entfernt, die in der Luft hängen, von sich selbst am meisten aufgegeben."

Poetische, distanzierte Sprache

Seine Sprache ist poetisch und distanziert zugleich - und Ilija Trojanow gelingt es diese Spannung zum Klingen zu bringen. Auch der Schmerz über Verlorenes ist zu hören und die Verwunderung über Verwundungen, die er erfahren hat.
"Geh doch zurück, wo du hergekommen bist! Würde der Geflüchtete diesen Satz ernst nehmen, müsste er in die Vergangenheit reisen. Das Land seiner Herkunft ist ihm inzwischen eine Terra incognita. Es wird bevölkert von Geistern, regiert von Gerüchten. Soll er es beschwören, soll er es vermaledeien?"
In seinen Miniaturen zeigt sich eine existentielle Verunsicherung: Denn die alte Heimat ist verloren, eine wirkliche Rückkehr nicht möglich, selbst wenn sich die politischen Bedingungen geändert haben.
"Heimkehr ist der größtmögliche Kulturschock. (...) Dem Vertrauten kann er nicht trauen. Als wachte er neben einem Nächsten auf, der sich über eine lange Nacht hinweg so sehr verwandelt hat, dass er vor Entsetzen aufschreit."
Doch eine neue Heimat zu finden, in der Fremde – das ist eine Lebensaufgabe, die sich anderen, die nicht geflohen sind, so nicht stellt.
"Eingewurzelt ins Utopische. Endlich daheim."
Rund zwei Stunden dauert diese Lesung, ganz schlicht ist sie, getragen vom Autor, seiner Stimme. "Nach der Flucht" ist ein wichtiger Kommentar zur aktuellen weltpolitischen Situation.
"Die Gefahr ist nicht, dass wir überfremdet werden, sondern dass uns die Fremde ausgeht."
Iljia Trojanow rückt die Geflüchteten in den Mittelpunkt seines Erzählens und ihn zu hören, verleiht dem Text noch eine andere Dringlichkeit: Eine Mahnung, den einzelnen zu sehen und sein Schicksal, das ihn immer begleiten wird.

Ilja Trojanow: Nach der Flucht
Argon Hörbuch, München 2017
2 CDs, Laufzeit 2 Stunden 5 Minuten, 15 Euro

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