Ihre Welt war die Bohème

31.05.2013
Der Hamburger Künstler und Hörbuchregissseur Andreas Karmers erinnert an Emmy Hennings. Er habe eine "fragmentarische Annäherung" an diese ungewöhnliche Künstlerin unternommen, meint Karmers. Emmy Hennings Welt war die Bohème von Berlin, Zürich und München.
"Ich finde es unanständig, vorsichtig zu leben, ich kann es nicht", das schrieb Emmy Hennings in ihren Erinnerungen. Emmy Hennings war eine der schillerndsten Frauenfiguren ihrer Zeit, ihre Welt war die Bohème von Berlin, Zürich und München. Sie tanzte, sang, schrieb Gedichte und Romane. Damals kannte man sie, heute kennt man eher ihre berühmten Zeitgenossen Erich Mühsam, Kurt Tucholsky, Frank Wedekind oder Joachim Ringelnatz.

Im Gegensatz zu ihnen geriet Emmy Hennings nach ihrem Tod 1948 völlig in Vergessenheit. Dies zu ändern ist der Hamburger Künstler und Hörbuchregissseur Andreas Karmers angetreten. In einer Collage aus Tagebuchnotizen, Prosa, Gedichten und Briefen erzählen 15 Sprecher und vier Musiker die faszinierende Geschichte der Emmy Hennings.

"Und dann Emmy - mit dem goldigen, jungen, kurzen Haar, dem schwarzen Käppi drauf, dem verschlissenen Gehrock, den sie jetzt als Paletot trug, und dem grünseidenen Fetzen, den sie darüber gewickelt hatte, und den violetten Strümpfen, die sie leger auf die gegenüberliegende Bank legte, damit ich ihr Bein streicheln konnte."

München also, genauer: Schwabing, um das Jahr 1908. Man traf sich bei Kathi Kobus im berühmten Künstlerkabarett "Simplicissimus", wo Erich Mühsam revoluzzerte, Joachim Ringelnatz rezitierte, Maler, Karikaturisten und Schriftsteller verkehrten - und wo eine gewisse Emmy Hennings aus dem hohen Norden nach turbulenten Wandertheater-Jahren gelandet war.

"Im Simplizissimus war es üblich, dass die Künstler nach den Darbietungen ihre Postkarten verkauften, eine Nebeneinnahme, die uns sehr erwünscht war, weil Kathi uns keine hohen Gagen zahlen konnte. Dafür taten Marietta, die Diseuse und ich uns allabendlich an einer Leberknödlsuppe gütlich, die uns gratis gespendet wurde, während der Dichter Joachim Ringelnatz soviel trinken durfte, wie er Lust hatte."

Bald macht sich Emmy Hennings einen Namen - mit Gedichten und Chansons.

"Ich bin gelaufen, ich bin gerannt, über Land und über See, kleine Scherben am Strand, waren alles, was ich fand."

"Oh, wie wir im Auto beben, die Allee voll Fliederduft, blondes Haar weht in der Luft und so trinke ich das Leben."
Die schon früh theaterbesessene Tochter eines norddeutschen Schiffs-Taklers war in der Münchner Bohème angekommen. Sie genießt das Leben - und die Liebe:

"Das arme Mädchen kriegt viel zu wenig Schlaf. Jeder will mit ihr schlafen, und da sie sehr gefällig ist, kommt sie nie zur Ruhe."

"Ich habe sie so gern in ihrer naiven Hurenhaftigkeit, die von nichts weiß als vom Lieben und Lieben lassen."

Einerseits. Andererseits spürt sie die volle Verachtung der Bourgeoisie:

"Ach, die Zimmerwirtin, die so höhnisch lächeln kann, dieses perfide Lächeln, das wie grausame Wollust aussieht. Die behagliche Sattheit auf dem Gesicht einer gemästeten Ehefrau!"

"Das Gefühl des Verachtetwerdens ist unbeschreiblich."

Prostitution und Diebstahl - ihr loser Lebenswandel bringt Emmy Hennings sogar ins Gefängnis - und hier schreibt sie wunderbar schwebende Gedichte:

"Durchs Gitter dringt in kleinen Wellen die Sehnsucht nach der fernen Heide. Mein Taschentuch hat grünen Saum, ein gelbes Feld ist in der Mitte. Und auf und ab sechs kleine Schritte, mein Taschentuch, mein grüner Baum."

Nur scheinbar disparate Elemente fügt Karmers hier zu dem berührenden Porträt einer mitreißenden Künstlerin und ihrer Zeit am Anfang des 20. Jahrhunderts. In ihrer zierlichen Person vereinte Emmy Hennings eine große poetische Begabung, Lebenshunger, katholischen Mystizismus, Willensstärke, erotische Ausstrahlung und Bühnenpräsenz - zudem ein ausgeprägtes politisches Bewusstsein.

Das führte sie und einige ihrer Gefährten 1916 schließlich nach Zürich, em damaligen Zentrum revolutionärer Geister. Hier gründeten Emmy Hennings, Hugo Ball und Richard Huelsenbeck das "Cabaret Voltaire" - die Wiege des Dada.

"Emmy war eine kleine, blonde Frau mit einer hellen, aber durchdringenden Stimme. Sie verstand es immer, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, obwohl sie keineswegs schön war. Emmy Hennings wurde die Seele des Cabarets. Ihre Couplets retteten uns vor dem Hungertode."

1920 heirateten Emmy Hennings und Hugo Ball und gingen ins Tessin, zu Hermann Hesse und dessen Verehrerkreis. 1927 starb Hugo Ball, er wurde 41 Jahre alt.

"Wir wissen nicht, wenn wir gesund sind, was im Sterbenden vor sich geht. Schlafe, schlafe nur, schlaf gut, mein Liebling Hugo, Du wirst es mir ein ander mal sagen. Er hauchte: ja. Und alles sank zurück, zurück in den Frieden der Ewigkeit, aus dem wir alle stammen."

Das Märchen war zu Ende.

Besprochen von Sigrid Menzinger

Andreas Karmers: Das Märchen ist zu Ende. Annäherungen an Emmy Hennings
Musik: Parov Stellar, Sven Panne, Sassa Jansen, Wolfgang Müller
Edition Apollon
3 CDs, Laufzeit 176 Minuten, 23,99 Euro


Über Hugo Ball, Begründer des Dadaismus und Ehemann Emmy Hennings:

Wiebke-Marie Stock: Denkumsturz Hugo Ball. Eine intellektuelle Biografie, Wallstein Verlag